Es gibt viele Gründe, warum es in Deutschland nicht erlaubt ist, ein Kind durch eine sogenannte Leihmutter auszutragen. Ein wichtiger Aspekt ist ähnlich wie beim Organhandel oder bei der Sexarbeit die Ausbeutung: Frauen aus prekären Verhältnissen stellen gegen eine bestimmte Summe ihren Körper zur Verfügung; sie werden für neun Monate gemietet wie eine Garage.
Für Paare, die seit Jahren versuchen, ein Kind zu zeugen und sämtliche medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft haben, ist die Leihmutterschaft hingegen ein Vorgang, von dem alle profitieren, und davon erzählen Katrin Bühlig (Buch) und Christine Hartmann (Regie) in ihrem Film "Mein Kind": Nach mehreren vergeblichen künstlichen Befruchtungen haben sich Judith und Niclas (Lisa Maria Potthoff, Maximilian Brückner) an eine ukrainische Agentur gewendet; nun trägt Oksana (Alina Danko) ihr Baby aus.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Nicht nur für das Münchener Ehepaar geht ein Herzenswunsch in Erfüllung: Die junge Frau wohnt mit ihrem Lebensgefährten Micha und der gemeinsamen Tochter bei den Schwiegereltern; ihr Honorar soll der Grundstock für die Finanzierung eines eigenen Hauses sein. Die Schwangerschaft ist völlig problemlos, alles läuft perfekt, aber dann überfällt Russland die Ukraine, und jetzt geht die Geschichte erst richtig los.
Fortan wechselt "Mein Kind" regelmäßig die Perspektive: Natürlich sind Judith und Niclas in großer Sorge um Oksana und ihr Baby. In den Videogesprächen versichert die Leiterin (Liudmyla Vasylieva) der Agentur zwar gebetsmühlenartig, dass Mutter und Kind in Sicherheit seien, aber die täglichen TV-Nachrichten lassen das Schlimmste befürchten, erst recht aus Publikumssicht: Oksana lebt in Butscha, einem Vorort von Kiew. Das Ehepaar beschwört die junge Frau, nach Deutschland zu kommen.
Tatsächlich steht sie eines Tages samt Tochter Nadja hochschwanger vor der Tür, doch nun ergibt sich ein neues Problem. Was in der Ukraine bloß eine Formsache wäre, scheitert hierzulande an der Gesetzgebung: Oksana könnte, wenn sie das Kind in München zur Welt bringt, nicht einfach auf ihre Mutterschaft verzichten. Außerdem hat sie durch ihre Reise die Vertragsbedingungen verletzt und muss fürchten, dass die Agentur sie nicht bezahlt.
Aus ihrer Sicht ist das alles jedoch zweitrangig, denn sie fürchtet um das Leben ihrer Familie. Micha versucht zwar, sie zu beruhigen, aber bei jedem ihrer Gespräche nennt er immer wieder neue Namen von ermordeten Menschen aus Freundeskreis und Nachbarschaft.
Neben den ausnahmslos vorzüglichen Darbietungen – die nach Österreich geflüchtete Ukrainerin Alina Danko ist eine echte Entdeckung – beeindruckt "Mein Kind" vor allem durch die realistische Schilderung der Ereignisse und den Facettenreichtum der Geschichte. Die sachlich inszenierten ersten beiden Akte bestehen größtenteils aus Innenaufnahmen. Dass der konsequent auf eine Wertung verzichtende Film trotzdem nicht zum Kammerspiel wird, liegt an den Nebenebenen.
Dazu zählt unter anderem die Ironie des Schicksals, dass Judiths Schwester (Karolina Horster), bereits zweifache Mutter, seit einem Seitensprung ungewollt schwanger ist. Die angehende Großmutter (Suzanne von Borsody) wiederum freut sich zwar auf ihre Enkelin, aber es ist ihr peinlich, dass sich ihre Tochter "im Ausland ein Kind kauft". Außerdem kommt es zu erheblichen Spannungen und gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen dem Ehepaar, das sich mit Hausbau, künstlichen Befruchtungen und dem 65.000 Euro teuren Leihmutterschaftsvertrag finanziell übernommen hat, zumal sich gerade Judith angesichts der Ereignisse nicht mehr auf ihre Arbeit in der gemeinsamen Versicherungsagentur konzentrieren kann.
All’ das ist vergessen, als der konsequent auf jede Wertung verzichtende Film im letzten Akt zum spannenden Kriegsdrama wird, das genug Stoff für eine eigene Erzählung bieten würde: Oksana hat es in München nicht mehr ausgehalten und ist zu ihrer Familie heimgekehrt. Nach der Geburt müssen Judith und Niclas nach Kiew, um das Baby abzuholen. Diese Szenen sind in Zagreb entstanden, aber eine ukrainische Produktionsfirma hat dokumentarische Aufnahmen der Zerstörungen in Kiew beigesteuert.
Spätestens jetzt zeigt "Mein Kind", was es heißt, mit der ständigen Angst vor einem Raketenangriff zu leben. Der Schrecken des Krieges ist allerdings schon vorher deutlich geworden, als Oksana nach dem russischen Massaker in Butscha ihren Freund nicht mehr erreichen kann. Mit dem erschütternden Schluss setzen Sender, Autorin und Regisseurin schließlich auch ein politisches Zeichen.