Mitunter sind es Kleinigkeiten, die den Lauf der Weltgeschichte beeinflussen, zum Beispiel ein Motorschaden: Irgendwo in der hessischen Provinz bleibt ein Wagen liegen. Ein Mann schleppt das Auto mit seinem Trecker ins nächste Dorf. Weil die Reparatur einige Zeit in Anspruch nehmen wird, quartiert ein Kommissar seine Begleiter und sich im Gasthof "Zum Ochsen" ein. Die Bevölkerung ist misstrauisch und bleibt lieber auf Distanz; im Frühjahr 1944 genügt bereits ein unüberlegtes Wort, um verhaftet zu werden. Während sich Sonderermittler Rother noch auf eine beschauliche Auszeit einstellt, nimmt die Weltgeschichte ihren Lauf.
Kurz nach dem Absturz einer britischen Spitfire werden im Wald vier tote deutsche Soldaten entdeckt. Allem Anschein nach haben sie sich gegenseitig erschossen. Ein halb verkohltes Blatt enthält Bruchstücke höchst brisanter Informationen in englischer Sprache. Offenbar hatte der britische Pilot Unterlagen dabei, die erheblichen Einfluss aufs Kriegsgeschehen haben könnten; womöglich war er auf dem Weg nach Berlin, um sie dort zu übergeben. Aber wo sind die Papiere nun? Wie und warum sind die Soldaten gestorben? Und wo ist der Brite? Zumindest diese Frage beantwortet sich kurz drauf von selbst, als der Pilot, ebenfalls erschossen, in einer Kapelle entdeckt wird. Rother ahnt: Die Lösung dieses Mordfalls wird ihn auch zu den Unterlagen führen.
Was wie ein Weltkriegskrimi klingt, ist tatsächlich ein "Tatort", natürlich vom Hessischen Rundfunk, dem es immer wieder gelingt, mit ausgefallenen Stoffen für Abwechslung auf dem Sendeplatz zu sorgen. Gerade Felix Murot (Ulrich Tukur) darf sich immer wieder auf Abwege begeben. In seinem zwölften Fall ("Murot und das Paradies", 2023) erlebte der Wiesbadener LKA-Kommissar auf der Suche nach dem Glück Abenteuer, die nur wenigen Sterblichen vergönnt sind; unter anderem schwebte er durchs All, als sei er eine Figur aus dem Klassiker "2001: Odyssee im Weltraum". Weil es wohl doch zu gewagt gewesen wäre, Monsieur Murot auf eine Zeitreise zu schicken, ist ihm die Hauptfigur von Fall Nummer 13 nur zum Verwechseln ähnlich.
Eine clevere Schlussvolte des Drehbuchs von Michael Proehl, Dirk Morgenstern und Regisseur Matthias X. Oberg bietet zudem eine schlüssige Erklärung dafür, warum der Sonderermittler wie ein achtzig Jahre älterer Zwilling aussieht. Vermutlich wird "Murot und das 1000-jährige Reich" die "Tatort"-Gemeinde spalten: Die einen werden sich freuen, dass der HR wieder mal die ausgetretenen Pfade verlässt, die anderen hätten gern einen traditionellen Fall mit Mord aus Eifersucht, Hass oder Habgier. Diesmal geht es zwar um etwas Größeres, doch ansonsten bedient sich das Autorentrio durchaus bei den gewohnten Elementen des Provinzkrimis: Jeder kennt jeden, alle benehmen sich irgendwie verdächtig.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Da ist zum Beispiel Bernhard Tabler (Cornelius Obonya), ein Berliner Philosophieprofessor, der in Ungnade gefallen ist, weil er "falsch verheiratet" war. Auch Köchin Else (Barbara Philipp) hat offenkundig etwas zu verbergen. Gerda (Melanie Straub), die Gattin des Schmieds (André Meyer), der das Auto reparieren soll, wirft sich Rother regelrecht an den Hals, obwohl sie bereits eine Affäre mit Tabler hat. Die interessanteste Rolle neben dem Kommissar spielt jedoch Ludwig Simon: Hagen von Strelow ist Rothers linientreuer Adjutant. Gleich zu Beginn bittet ihn sein Chef, einen bellenden Hund zum Schweigen zu bringen; ein Vorgeschmack auf weitere Hinrichtungen, die der Leutnant gleichfalls ohne mit der Wimper zu zucken durchführen wird.
Simon versieht die zweite männliche Hauptrolle mit einem schneidigen Eifer, der natürlich zur Figur passt, aber mitunter auch behauptet wirkt. Eine seiner bislang besten Rollen – als Vergewaltiger in dem Jugenddrama "Alles Isy" (2018) – war zwar ebenfalls ein Schurke, doch im Vergleich zum Murot-"Tatort" war der Sohn von Maria Simon und Devid Striesow als schmucker Held in dem ZDF-Märchen "Schneewittchen und der Zauber der Zwerge" (2019) überzeugender.
Im Unterschied zum wendungsreichen Drehbuch ist die Umsetzung eher unauffällig. Interessant ist allerdings der Schauplatz: Der Film ist größtenteils im Freilichtmuseum Hessenpark mit seinen über hundert historischen Fachwerkhäusern entstanden. Oberg hat zuletzt unter anderem den heiteren elften Murot-Krimi gedreht ("… und das Gesetz des Karma", 2021). Dort musste sich Tukur die Meriten mit Anna Unterberger als Trickbetrügerin teilen; eine Gegenfigur dieses Formats fehlt diesmal leider.