"Der Mann, der zuviel wusste" oder auch "Zur falschen Zeit am falschen Ort": "Spurlos in Marseille" erzählt die klassische Hitchcock-Geschichte vom unbescholtenen Bürger, der Zeuge eines Verbrechens wird, fortan als Mörder gilt und nicht nur von den Gangstern, sondern auch von der Polizei gejagt wird. Fabian Busch ist eine ausgezeichnete Besetzung für derartige Rollen: Bruno Bassmann, ehedem Bootsbauer, nun Hausmann, muss weit über sich hinauswachsen, um seine Frau zu retten. Ihr gilt der Titel: Auf dem Weg in den südfranzösischen Urlaub legt das Ehepaar einen Zwischenstopp in Marseille ein.
Katja (Jeanne Tremsal) will sich mit einem ehemaligen Studienkollegen treffen, kommt aber nicht mehr zurück; offenbar ist sie entführt worden. Durch Zufall findet Bruno raus, dass sie bei ihrem Arbeitgeber, der Deutschen Zentralbank, brisante Daten entwendet hat, die sie dem befreundeten Journalisten übergeben wollte; Bruno findet den Mann kurz drauf tot in dessen Badewanne. Die Handlung des Drehbuchs von Gernot Krää erinnert verblüffend an ein halbes Jahr vor der TV-Premiere (2020) ausgestrahlte Charlotte-Link-Verfilmung "Die Entscheidung".
In dem nicht minder fesselnden Thriller spielt Felix Klare einen Familienvater, der gemeinsam mit einer Streunerin ohne eigenes Verschulden in ein Verbrechen verwickelt wird; das ungleiche Duo gerät ebenfalls in Marseille ins Visier einer skrupellosen Organisation. Die Rolle der jungen Komplizin wird in "Spurlos in Marseille" von Sabrina Amali gespielt: Taxifahrerin Aliya ist der einzige Mensch in Marseille, dem Bruno vertrauen kann. Mit ihrer Hilfe findet er raus, dass ein korrupter tunesischer Ex-Politiker hinter der Entführung steckt.
Regisseur Roland Suso Richter hat viele große Filme über wichtige zeitgeschichtliche Ereignisse gedreht, allen voran "Der Tunnel" (2001), "Dresden" (2006), "Mogadischu" (2008) und "Die Spiegel-Affäre" (2014). Zuletzt hat er im Auftrag der ARD-Tochter Degeto den "Zürich-Krimi" auf ein höheres Niveau gehoben. Für diese Reihe ist mit "Borchert und die tödliche Falle" (2020) auch einer der besten Thriller dieses Jahres entstanden. Handwerklich sind sich die beiden Filme sehr ähnlich, zumal Richter erneut Kameramann Max Knauer an seiner Seite hatte.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Viele Perspektivwechsel sorgen für eine enorme Handlungsdichte, häufige Schauplatzwechsel lassen den Film überdurchschnittlich aufwändig wirken. Es gibt ohnehin hierzulande nicht viele Regisseure, deren Inszenierungen eine vergleichbare visuelle Kraft entfalten. Auch die Hochspannungsmusik von Arash Safaian, der schon bei dem Thriller "Der 7. Tag" (2017) für Richter gearbeitet hat, ist fast zu groß für handelsübliche TV-Lautsprecher.
Für den Drehbuchautor ist "Spurlos in Marseille" dagegen ein recht ungewöhnlicher Stoff. Der frühere Kinderfilmregisseur Krää hat zuletzt ausschließlich Dramen geschrieben, darunter "Schöne heile Welt" (2019, Buch und Regie), eine sehenswerte Tragikomödie über einen dauernörgeligen Langzeitarbeitslosen, der sein Herz für einen kleinen Flüchtling entdeckt. Mit seinem jüngsten Drehbuch ist Krää ein zwar nicht herausragender, aber dank Richters Inszenierung jederzeit fesselnder Thriller gelungen.
Dass nicht alle Handlungswendungen so überraschend sind wie vom Autor geplant, ist nicht zuletzt eine Frage der Besetzung; so ist zum Beispiel schon früh klar, wer der eigentliche Schurke der Geschichte ist. Ansonsten ist die Auswahl der Schauspieler nahezu perfekt, zumal Richter auch für die Nebenfiguren markante Mitwirkende gewinnen konnte, allen voran Gitta Schweighöfer als Großmutter. Jeanne Tremsal hat schon in Richters "Dipomatin"-Episode "Böses Spiel" gezeigt, dass sie jenseits etwa des "Herzkinos" im ZDF viel zu selten in größeren Rollen besetzt wird.
Sabrina Amali wiederum, Schweizerin mit marokkanischen Wurzeln, hat bereits in einigen deutschen TV-Produktionen mitgespielt, zuletzt unter anderem als Titelfigur der ARD-Serie "Die Notärztin" (2024). Vorzüglich geführt ist auch Lea Weinkauf als Brunos Tochter. Anders als die Charlotte-Link-Adaption "Die Entscheidung" wird "Spurlos in Marseille" außerdem dem Schauplatz gerecht: Brunos Hilflosigkeit wird noch dadurch unterstrichen, dass er kein Französisch kann, und wenn sich Aliya auf Arabisch mit ihrer nordafrikanischen Familie unterhält, versteht er ohnehin kein Wort. Enttäuschend ist allerdings der Schluss: Die Geschichte endet ziemlich unbefriedigend.