Frau Gillhausen, Ihre ersten 100 Tage an der Spitze der Stabsstelle Prävention, Intervention und Aufarbeitung sind rum. Wie ist Ihr Team inzwischen personell aufgestellt?
Katja Gillhausen: Die Organisation der Stabsstelle hat sich an die wachsenden Herausforderungen angepasst und wir haben deutlich personell nachgerüstet. Neben dem Bereich der Prävention, der Meldestelle und der Ansprechstelle als Teilen der Stabsstelle gehört seit dem 1. Juni auch eine Interventionsmanagerin dazu, die die Fallkoordinierung nach Eingang einer Meldung übernimmt.
Darüber hinaus haben wir seit Anfang August eine Vollzeitstelle für eine Fachkraft für Aufarbeitung geschaffen, die sowohl landeskirchliche Fälle aufarbeitet als auch die Initiierung und Begleitung von Aufarbeitungsstudien und Projekten betreibt. Und meine Leitungsposition ist auf eine Vollzeitstelle aufgestockt worden.
Mit der Arbeit Ihrer Stabsstelle sind inner- und außerkirchlich hohe Erwartungen verbunden. Was hat für Sie besondere Priorität?
Gillhausen: Die Betroffenen stehen für mich im Mittelpunkt, denn sie haben ein Recht auf Aufarbeitung. Es ist unsere Pflicht, sie in der Durchsetzung dieses Rechts nach Kräften zu unterstützen und auf das zu schauen, was unsere Verantwortung ist. Deshalb sammeln wir Erkenntnisse über eigene Machtstrukturen und Gewaltkonstellationen und versuchen deren Ursachen auszumachen. Wir wollen aber nicht nur beschreiben, was gewesen ist, sondern genau hinschauen, was wir daraus für die Zukunft und unsere Präventionsbemühungen lernen können.
"Es wurden und werden bereits mehrere Aufarbeitungsprojekte und -studien durchgeführt."
Das sind wir den Menschen, die sich auf allen Ebenen der evangelischen Kirche an uns wenden, schuldig. Und das ist auch nicht nur Teil der außerkirchlichen Erwartung, sondern ausdrücklicher Auftrag der Kirchenleitung. Die Einbindung von Betroffenen wurde nach den Ergebnissen der Studie zum Martinstift durch die Kirchenleitung festgelegt. Ohne ihre Beteiligung können wir die Mammutaufgabe der Aufarbeitung nicht bewältigen.
Die Aufarbeitung auf der Ebene der Kirchenkreise und Gemeinden steht erst am Beginn. Welche Anfänge sind gemacht?
Gillhausen: Es wurden und werden bereits mehrere Aufarbeitungsprojekte und -studien durchgeführt. Im Kirchenkreis Moers gab es im vergangenen Jahr eine Untersuchung zu den Gewaltkonstellationen im evangelischen Schülerheim Martinstift. Eine weitere Studie soll sich demnächst mit möglichen Fällen in allen Internaten evangelischer Trägerschaft seit 1946 befassen. Eine Vorstudie dazu liegt bereits vor.
In Düsseldorf haben drei Kirchenkreise gemeinsam einen Aufruf für Betroffene gestartet, um mit wissenschaftlicher Unterstützung den Fall eines bereits verstorbenen Kirchenmusikers aufzuarbeiten. Und schließlich betreibt ein Kölner Kirchenkreis ebenfalls eine fallbezogene Studie mit wissenschaftlicher Begleitung. Bei konkreten Hinweisen sind künftig natürlich auch Untersuchungen in anderen Kirchenkreisen denkbar.
Eine Unabhängige Aufarbeitungskommission für Rheinland, Westfalen und Lippe ist angekündigt und soll im nächsten Jahr die Arbeit aufnehmen. Wie stellen Sie sich die Zusammenarbeit vor?
Gillhausen: Die notwendige Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt erfolgt für den Bereich der rheinischen, der westfälischen und der lippischen Kirche sowie der gemeinsamen Diakonie in der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommission Verbund West. Ein erstes Forum mit Betroffenen hat im Juni in Dortmund stattgefunden. Im September wurde ein Workshop durchgeführt, in dem die Betroffenen bei der Findung ihrer Vertreter:innen für die Kommission vorangekommen sind.
"Mit Blick auf den Staat wäre ich offen und dankbar für verbindliche rechtliche Rahmenbedingungen, die uns erklären, wie wir Aufarbeitung betreiben sollen."
Die Bundesländer benennen nun ebenfalls noch ihre entsprechenden Fachleute. Nach Absprachen auf EKD-Ebene soll die Arbeit im ersten Quartal 2025 beginnen. Damit die Kommission gut starten kann, haben Staatsanwält:innen auf Bitten der rheinischen Kirche die Personalakten der an die ForuM-Studie gemeldeten Fälle gesichtet und aufbereitet. Wir gehen davon aus, dass aus der Aufarbeitungskommission konkrete Aufträge an uns herangetragen werden, die wir bestmöglich bearbeiten werden.
Sollte der Staat nach Ihrer Meinung bei der Aufarbeitung eine größere Rolle spielen oder sie sogar ganz übernehmen?
Gillhausen: Mit Blick auf den Staat wäre ich offen und dankbar für verbindliche rechtliche Rahmenbedingungen, die uns erklären, wie wir Aufarbeitung betreiben sollen. Sie würden dann nicht nur für uns gelten, sondern der Staat könnte einheitliche Standards für verschiedene gesellschaftliche Bereiche aufstellen, die ja in ähnlichen Situationen sind wie wir. Ich wüsste allerdings nicht, wie der Staat konkret die Aufarbeitung vor Ort übernehmen sollte. Wir als Verantwortliche sind zur Durchführung und Finanzierung in der Pflicht und auch bereit.
"Wir nehmen jeden Hinweis, jede Angabe und Schilderung von Betroffenen ernst, egal in welcher Form sie uns erreichen."
Dass Betroffene in den Prozess eingebunden werden müssen, ist Konsens. Aber die Betroffenen sind eine sehr heterogene Gruppe mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessenlagen. Wie gehen Sie damit um?
Gillhausen: Für uns ist selbstverständlich, dass die Betroffenen zwar ein Recht auf Aufarbeitung haben, aber keine Verpflichtung zur Zusammenarbeit. Wir nehmen jeden Hinweis, jede Angabe und Schilderung von Betroffenen ernst, egal in welcher Form sie uns erreichen. Den Betroffenen stehen unterschiedliche Wege der Kontaktaufnahme offen. Uns ist klar, dass es viele Betroffene gibt, die der Institution Kirche nicht mehr vertrauen und sich nicht an kircheninterne Ansprechstellen wenden möchten. Wir gehen darauf ein, indem wir auch unabhängige Ansprechpersonen benennen und in Betroffenenaufrufen und auf unserer Homepage veröffentlichen.
"Es ist wichtig, dass die Betroffenen in der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommission mit eigenen Vertretern aktiv werden können."
Zudem bieten wir allen Betroffenen unabhängig von ihrer Fähigkeit, sich zu ihrem Fall zu äußern, Unterstützungsmöglichkeiten in Form von psychologischer oder Prozessbegleitung und -unterstützung an. Es ist wichtig, dass die Betroffenen in der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommission mit eigenen Vertretern aktiv werden können. So haben sie selbst in der Hand, wie die unterschiedlichen Interessenlagen Berücksichtigung finden können.
Nach Ihren ersten Eindrücken: Ist die Bedeutung des Themas sexualisierte Gewalt in der Breite der rheinischen Kirche erkannt?
Gillhausen: Insgesamt betrachtet können wir da noch besser werden. In einigen Bereichen müssen wir noch mehr für das Thema sensibilisieren und verdeutlichen, dass das Wohl der Betroffenen auch bei der Aufarbeitung von Altfällen immer vor der "Ruhe in der Institution" stehen muss. Ich stelle auf der anderen Seite aber auch fest, dass das Thema in vielen Kirchenkreisen bereits sehr wichtig genommen und regelmäßig thematisiert wird. Hier scheinen unsere Schulungen und der öffentlichkeitswirksame Umgang mit dem Thema Früchte zu tragen. Der erste Schock, dass es auch in der rheinischen Kirche viele Fälle sexualisierter Gewalt gegeben hat, scheint langsam überwunden zu sein und mehr und mehr Energie für einen konstruktiven Umgang damit freizusetzen.