Die Notwendigkeit der Dekolonisierung und Reformierung der Theologie ergibt sich aus einer vielschichtigen Kritik. Dazu gehört, die historischen Verflechtungen von Nord und Süd, die anhaltenden Auswirkungen der Ungerechtigkeiten des Kolonialismus und die laufenden interkulturellen Begegnungen zu studieren. Und wir brauchen Theologien, die kontextuell relevant und transformativ sind. Für Theolog*innen im Globalen Süden bedeutet Dekolonisierung, dass sie die ererbten westlichen Inhalte, Methoden und zentrumsorientierten Kategorien kritisieren. Für die Theolog*innen im Globalen Norden bedeutet es, ihre Theologie zu erkennen und zu provinzialisieren, indem sie verstehen, wie sie auf ihre spezifischen Kontexte reagiert und von ihnen geprägt wird.
Die Theologie, wie sie in der als Globaler Süden bezeichneten Region studiert und gelehrt wird, ist im Großen und Ganzen stark vom Globalen Norden beeinflusst. Westliche Methoden des Studiums der Bibel, der Geschichte und wichtige Denker*innen haben die theologische Praxis des Südens durchdrungen. Die Geschichte der Theologie zum Beispiel kann im Westen als ein ständiger Dialog mit dem griechischen, lateinischen und dann modernen Denken geschrieben werden. Das Christentum, das in meine Region, den Nordosten Indiens, mit der Denkweise des Kolonialismus und der Moderne kam, bewirkte mit einer solchen Sicht auf die Geschichte einen völligen Bruch mit den Weltanschauungen der Stämme und der Organisation der Gemeinschaft. Die Einführung der Schrift unterbrach die traditionelle Wissensvermittlung und definierte neu, was Wissen ausmacht, was zur Marginalisierung vormoderner Lebensweisen und Weltanschauungen führte.
Dekolonisierende Theologie
Zur Dekolonialisierung der Theologie gehört es, koloniale Hinterlassenschaften, die in historischen, kulturellen und theologischen Rahmen eingebettet sind, kritisch zu untersuchen und abzubauen. Denker*innen wie Homi Bhabha haben die Kategorie der Hybridität eingeführt, um Identitäten zu untersuchen, die in solchen kolonialen Begegnungen entstehen. Eine der Fragen, die sich dekolonisierende Denker*innen an Orten wie Mizoram im Nordosten Indiens, wo ich herkomme, stellen sollten, lautet: Wie können wir im Selbstbild von Stammes-Christ*innen Spuren des Bildes erkennen, das die britischen Kolonialbeamt*innen und auch die Missionar*innen von den vorchristlichen Stammesangehörigen hatten? Zum Beispiel spiegeln die Vorstellung davon, was es bedeutet, ein*e "gute*r Christ*in" zu sein, und die damit verbundenen Sünden und Tugenden oft die Haltung der walisischen und englischen Missionar*innen wider. Im Fall der Mizo beispielsweise ist der heutige Staat im Gegensatz zur vorchristlichen Mizo-Gesellschaft ein alkoholfreier Staat, was die Einstellung widerspiegelt, die die walisischen und englischen Missionar*innen in diesen Teil der Region brachten, nämlich dass Alkoholkonsum eine Sünde ist.
Ein dekolonisierender Ansatz ist daher ein Prozess des Lernens dessen, was vor der Ankunft des Christentums da war, und des Verlernens einiger der Lektionen, die in den frühen Phasen des Christ*inwerdens umgesetzt wurden. Stammestheolog*innen in Nordostindien entwickeln und fördern einen Prozess des Lernens und Verlernens, zum Beispiel durch die Wiederentdeckung von tlawmngaihna, dem ungeschriebenen ethischen Kodex der vorchristlichen Mizo. Dieser Kodex, tlawmngaihna, geht nicht von der Frage aus, wie ich gerettet werden kann, sondern von der eigenen Position im sozialen Netz und der Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft, deren Wohlergehen und Überleben als Gemeinschaft und nicht als Individuum zu sichern.
Lernen und Verlernen
Eine solche Rekonstruktion muss kritisch sein und der Versuchung widerstehen, das Bild einer verlorenen, aber goldenen Vergangenheit zu konstruieren. Dies würde die Gründe verschleiern, warum sich das Volk der Mizo für das Christentum entschieden hat. Stattdessen sollte der Schwerpunkt darauf liegen, die fortdauernde Präsenz traditioneller Konzepte nachzuvollziehen und zu untersuchen, wie sie mit den weiterentwickelten Formen des Christentums interagieren, die neue Wege in der Welt eröffnet haben. Auch heute noch lebt der*die Einzelne in meiner Stammesgemeinschaft in einem dichten und reichhaltigen Beziehungsgeflecht, in dem viele Menschen an der Erziehung und Unterstützung der*des Einzelnen beteiligt sind.
Bhabha stellte fest, dass auch die Identität der Kolonisator*innen hybrid ist, weil das Bild, das sie von sich selbst haben, von dem Bild geprägt ist, das sie von den anderen hatten. Die Dekolonialisierung und Reformierung der Theologie im Norden beinhaltet daher einen parallelen Prozess des Lernens und Verlernens. Dieser Prozess muss sich mit dem inhärenten Überlegenheitskomplex auseinandersetzen, der darin besteht, die Zivilisation in den Rest der Welt zu bringen. Er sollte den Reichtum der Begegnungen einbeziehen, die das Christentum erfahren hat, indem es sich in neuen Formen des Seins in der Welt realisiert hat. Die kritische Untersuchung der kolonialen Ausbreitung und ihrer Legitimation sowie der Begegnungen relativiert die Theologien des Nordens als kontextuelle Theologien, nicht als normative. Das Bild des globalen einfachen Christenmenschen ist heute nicht männlich und weiß, sondern jung, weiblich und verschiedener Herkunft. Um sich auf diese Weise mit anderen Theologien auseinanderzusetzen, kann der Norden lernen, seine zentralen Kategorien wie Geschichte, das (moderne) Individuum oder die Einbindung in das Netz des Lebens zu rekonstruieren.
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