Einige Traditionen der Herrnhuter sind mittlerweile zum christlichen Mainstream geworden, wie die Weihnachtssterne und die Losungen. Die Brüdergemeine ist der Evangelischen Kirche in Deutschland angegliedert. Zwischen beiden Traditionen herrschen Verständnis und Akzeptanz. Aber es war nicht immer so.
Die 1727 gegründete Herrnhuter Brüdergemeine war nicht als separate Kirche gedacht, aber sie war von Anfang an anders als ihre Umgebung. Ihr Gründer, Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760), nahm in seinem Gut Protestanten aus Böhmen und Mähren auf, die einen großen Einfluss auf ihn hatten. Im Zentrum seiner Theologie stand nicht die Dreieinigkeit, sondern die Gestalt Christi. Jesus selbst musste das Oberhaupt der Kirche und Objekt individueller spirituellen Erfahrung werden. Und die Quelle des geistlichen Lebens sollte laut Zinzendorf die Seitenwunde sein, die Jesus am Kreuz zugefügt wurde.
Der Kult der Seitenwunde Jesu reicht bis ins Mittelalter zurück. Eigentlich ging es ursprünglich um die Fünf Wunden – vier von den Nägeln und eine von der Lanze eines römischen Soldaten. Weil aus dieser Wunde laut Bibel Blut und Wasser herausflossen (Johannes 19,34), sollte sie zwei Sakramente symbolisieren: Abendmahl und Taufe. Auch in der Evangelischen Kirche waren Jesu Wunden ein Thema: In Kirchenliedern erinnerten sie daran, dass Jesus nicht umsonst gelitten hat, und dass die Christen sich entsprechend benehmen sollten. Aber Zinzendorf ging in seiner Theologie deutlich weiter.
Die Seitenwunde Jesu als sicherer Ort
Es gibt eine psychotherapeutische Übung, die vor allem den Menschen vorgeschlagen wird, die unter Angst leiden: "Stellen Sie sich vor, dass Sie in einem sicheren Ort sind". Beinahe 200 Jahre vor der Entwicklung der Psychotherapie, wussten die Herrnhuter ganz genau, was für sie der sichere Ort wäre:
So wie eins im Bette gerne Ruhe hätte, so ists meinem Geist.
Er ist ausgeflogen, ist mit Ihm gezogen, ist mit Ihm verreist.
Wo denn hin? Seht, wo ich bin: In der Wunden Jesu Klüfte,
In sein's Grabens Grüfte.
(N. 67 im Anhang der übrigen Bruder-Lieder seit 1749)
Für Zinzendorf und seine Anhänger war die Seitenwunde viel mehr als ein Symbol des Leidens. In Liedern, Briefen und der bildlichen Darstellung wurde das "Seitenhöhlchen" als ein eigenständiger Ort dargestellt. Es war der Eingang in einen "Safe Space", wohin die christliche Seele strebte und wo sie sich so wohl und geborgen fühlte, wie nirgendwo sonst. Man wollte tatsächlich hinein in die Seitenwunde! Dort befand sich eine ganze eigene Welt. Am anschaulichsten zeigen das die zeitgenössischen Bilder. In der Seitenwunde konnte man schlafen, spazieren gehen, essen (das symbolisierte Abendmahl) oder einfach beten und meditieren.
Die Verehrung der Seitenwunde, deren Darstellung stets an eine Vulva erinnerte, trieb immer mehr Blüten. 1748 wurde in Herrnhaag, einer Herrnhuter Siedlung in Hessen, ein Fest gefeiert. Das Gemeindehaus wurde prächtig geschmückt, und die Eingangstür wurde zur riesigen Seitenwunde gemacht. Noch pikanter macht die Situation die Tatsache, dass an dem Fest nur die ledigen Brüder teilnahmen.
Ich kann vor Liebe kaum dran denken,
Du schöner Blut- und Wasserfall!
Mein Herze will ich dir verschenken,
Ergieß dich drein viel Tausend Mal.
Mein Herze lechzt, die Augen fliessen,
Die Seele krankt nach Tröpfelein,
Wie sie aus Jesu Wunden fliessen;
Ein jedes dringt durch Mark und Bein.
(N. 24 im Anhang der übrigen Bruder-Lieder seit 1749)
Das Seitenhöhlchen war für die Herrnhuter der Ursprung des christlichen Lebens. Man kann es auch buchstäblich verstehen – als Vagina und Gebärmutter, durch die man als Christ auf die Welt kommt. Die Herrnhuter selbst haben offen über diese Assoziationen in Liedern und Predigten gesprochen. Man wurde aus der Seitenwunde geboren, man wollte aber auch in sie eindringen, sie küssen und streicheln, durch sie sich körperlich mit Jesus verbinden.
Im Moment da der Stich geschah,
fuhr ich heraus Halleluja
Gebohren aus seiner Seit.
(Zit. nach Fogleman, Aaron Spencer, Jesus ist weiblich. Die herrnhutische Herausforderung in den deutschen Gemeinden Nordamerikas im 18. Jahrhundert. Historische Anthropologie 9.2 (2001): 167-194, S. 167.)
Besonders viele Lieder, die die Seitenwunde als Objekt erotischen Begehrens darstellen, hat der Sohn des Grafen von Zinzendorf, Christian Renatus (1727-1752) geschrieben. In seiner Gemeinde wurde dieser Kult so übertrieben gefeiert, dass es auch seinem Vater Sorgen machte. Mit dem Tod der beiden begann diese Form der Frömmigkeit allmählich zu verblassen, bis sie Ende des 18. Jahrhunderts ganz aus dem Alltag der Herrnhuter verschwand.
War Christus überhaupt ein Mann?
Zeitgenossen warfen Zinzendorf vor, dass er Gott "feminisierte". Er hat nicht nur über die Seitenwunde als Vagina, sondern auch über den Heiligen Geist als über eine liebende Mutter gepredigt. Gleichzeitig spielte in Zinzendorfs Glauben das mystische Motiv des "himmlischen Bräutigams" eine enorme Rolle, in dem Jesus eher männlich war. Die Beziehungen zwischen ihm und der menschlichen Seele seien wie die zwischen Bräutigam und Braut, die sich im Himmelreich endlich treffen würden, und ja, "Geküßt, geküßt muss sein". (Zit. nach Paul Peucker, The Songs of the Sifting. Understanding the Role of Bridal Mysticism in Moravian Piety During the Late 1740s, Journal of Moravian History 3.1 (2007): 51-87. S. 76.)
Man kann also mit heutiger Terminologie sagen, dass Gott für die Herrnhuter ein bisschen "Gender-Fluid" war, und sein Geschlecht sich von Situation zu Situation veränderte. Sowohl Männer als auch Frauen konnten in ihm eine Elternfigur oder auch einen Geliebten oder eine Geliebte finden, ohne an der eigenen sexuellen Orientierung zu zweifeln.
Laut Craig D. Atwood, war diese Sexualisierung von Jesus und seiner Seitenwunde paradoxerweise mit hohen Keuschheitsidealen in der Brüdergemeine verbunden. Sie sollte die Libido der Gläubigen auf Gott umlenken, den man sowieso lieben sollte, und sie so von der möglichen Unzucht schützen. Aber viele Zeitgenossen hat die Seitenhöhlchen-Frömmigkeit so schockiert, dass sie den Herrnhutern schreckliche Orgien vorwarfen.
Es bleibt festzuhalten, dass unsere christlichen Vorfahren nicht so patriarchal, binär und körperfeindlich waren, wie es häufig behauptet wird. Sie konnten erstaunlich offen über komplexe Genderidentitäten und Sexualität sprechen – und das im religiösen Kontext. Sie suchten eine emotionale, persönliche Verbindung zu Gott, die alle üblichen Rahmen sprengen sollte. Es ging den Herrnhutern vor allem um die Liebe zu Gott in unterschiedlichsten Formen.
Hier finden Sie ein Suchergebnis mit weiteren Abbildungen des "Seitenhöhlchens".