"Wenn der kommt, sind wir dich los", sagte ihre Mutter damals beinahe prophetisch und zeigte auf einen jungen Mann, der auf einem Foto zu sehen war. Die Familie aus Bernhausen bei Stuttgart, die ihnen Pakete mit Nahrungsmitteln in die DDR schickte, hatte ihren Besuch bei der Familie Greiner im thüringischen Steinach angekündigt. Sie wollten die Menschen kennenlernen, die ihre Pakete erhielten.
Tatsächlich war es bei dem Besuch am 10. März 1982 Liebe auf den ersten Blick: Siegfried Jahn und Dagmar Greiner warfen sich im Treppenhaus der Familie Greiner vielsagende Blicke zu und schrieben sich seit dem Treffen Liebesbriefe. Und die 18-jährige Dagmar, die bis dahin nie bereit gewesen wäre, auch nur in den Nachbarort zu ziehen, dachte ernsthaft über eine Ausreise in den Westen nach.
Rasch bekam die DDR-Staatssicherheit (Stasi) die Beziehung mit. "Als ich am Busbahnhof auf meinen Bus wartete, schaute mich ein älterer Mann mehrmals an, bis er fragte: Sind Sie das Fräulein Greiner? Ich soll Ihnen Grüße von der Familie Jahn ausrichten", erinnert sich Dagmar Jahn, geborene Greiner.
Viermal besuchte Siegfried Jahn seine Freundin in der DDR, die zu dieser Zeit eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester machte. Doch seit dem Beginn ihres Kontaktes wurde ihr das Leben schwer gemacht: So schrieb die werdende Kinderkrankenschwester im schriftlichen Examen eine Eins - telegrafierte das auch glücklich ihrem Freund. Aber ein paar Wochen später wurde sie von ihren Lehrerinnen und dem Prüfer nochmals einberufen. Sie habe ihr Thema verfehlt, es gäbe nun insgesamt "großzügigerweise" noch eine Drei. Ähnliches geschah bei der mündlichen Prüfung.
Nach ihrer Verlobung stellte die nun fertig examinierte Kinderkrankenschwester einen Ausreiseantrag. Seit diesem Zeitpunkt durfte ihr Verlobter nicht mehr in die DDR einreisen. Dafür wurde die 18-Jährige strafversetzt von der Frauenklinik in Erfurt in ein Altenheim nach Sonneberg.
Ein Jahr voller Schikanen der Stasi
Alle ein bis zwei Wochen wurde Dagmar zur Stasi geladen. Dort wurde ihr erzählt, dass ihr Verlobter, der in dieser Zeit in Basel Theologie studierte, mit einer Kommilitonin ein Verhältnis habe. Er würde sich nur nicht trauen, es ihr zu sagen, aber sobald sie in den Westen käme, würde er sie verlassen: "Wenn man sich ein Jahr lang nicht sieht, braucht man schon viel Liebe, um solchen Gerüchten nicht zu glauben." Nach einem Jahr solcher Schikanen durfte sie am 7. August 1984 dann "zur Übersiedlung in die BRD mit anschließender Eheschließung" ausreisen. Sie wurde mit einem Bus an die Grenze gefahren und dort von Beamten der Bundesrepublik empfangen: "Ich staunte über die Autobahnen im Westen, die vielen Lichter und modernen Autos."
Am 9. März 1985 heirateten Dagmar und Siegfried Jahn. Einer Hochzeit in der DDR wurde nicht zugestimmt, weil die Stasi, wie Dagmar Jahn später durch die Unterlagen erfuhr, befürchtete, dass die Hochzeitsfeier zu einem "gesamtdeutschen Treffen größeren Ausmaßes" ausarten könne. Dagmars Familie wurde nicht erlaubt, an der Hochzeit ihrer Tochter im Westen teilzunehmen: "Meine Hochzeit war schön, aber ich habe an dem Tag auch sehr viel geweint, weil meine Familie ihn nicht miterleben durfte."
Glockengeläut als Protest
Womit die Stasi nicht gerechnet hatte, war, dass der Pfarrer in ihrem Heimatort in der DDR zur Zeit der Trauung für eine Stunde die Kirchenglocken läuten ließ und einen Gottesdienst für die Familie Greiner hielt - als ein kleines Zeichen des Widerstands gegen das SED-Regime.
Als Dagmar Jahn am 9. November 1989 im Fernsehen von der Pressekonferenz erfuhr, in der Günter Schabowski die neue Reiseregelung für DDR-Bürger vorstellte, war ihr nicht sofort klar, was das bedeutete. Am späten Abend klingelte es an ihrer Haustür. Vor ihr standen ihre Eltern, die sich sofort ins Auto gesetzt hatten, um endlich ihre Tochter und Familie wiederzusehen: "Das sind Momente, die man nie vergisst, die einen prägen."
Heute ist Dagmar Jahn 39 Jahre mit ihrem Mann Siegfried, dem ehemaligen evangelischen Dekan von Blaufelden, verheiratet und teilt derzeit bewusst ihre besondere Liebesgeschichte per Video in ihrem Bekanntenkreis. Damit will die überzeugte Christin anderen Hoffnung machen.