Du machst jetzt seit über 70 Jahren Musik. Angefangen hast du in Zwolle mit der Orgel. Was hat dich als Kind motiviert, ausgerechnet mit der Orgel anzufangen?
Ton Koopman: Ich war, als ich noch nicht ganz sieben Jahre alt war, in einem Knabenchor in der katholischen Kirche in Zwolle. Mich hat am meisten der Organist fasziniert. Es war Liebe auf den ersten Blick und ich stand dann immer neben ihm und habe ihn beobachtet. Ich ging in eine Grundschule, in der Mönche unterrichtet haben. Kurz vor Weihnachten ist dann der Organist des Klosters gestorben und mein Lehrer, der wusste, dass ich Klavierunterricht hatte, hat mich gefragt, ob ich im Kloster Orgel spielen könnte. So kam es, dass ich ab da regelmäßig die Gottesdienste im Kloster begleitet habe. Da ich als Kind dafür natürlich kein Geld bekommen konnte, sind wir dann an meinem Geburtstag immer in die Buchhandlung gegangen und ich durfte mir ein Buch über Musik aussuchen.
Wenn man sich deinen Kalender anschaut, fragt man sich, wie du dieses Pensum schaffst. Woher nimmst du die Energie für diese vielen Konzerte und Kurse auf der ganzen Welt?
Koopman: Ich fand es immer schön, für Menschen zu spielen. Das gibt mir Energie. Außerdem bin ich sehr neugierig - das ist dann der Musikwissenschaftler Koopman - und es gibt noch so viel, was man lernen kann und was mich motiviert, viel zu forschen. Deshalb habe ich auch bei meinen Lehrern immer viel nachgefragt, was bei ihnen nicht immer gut ankam.
Gustav Leonhardt, bei dem du studiert hast, galt als strenger Lehrer. Wie gut fand er es, dass du so viel hinterfragt hast?
Koopman: Er wollte eigentlich immer hören "Danke!" Ich habe aber immer gesagt "Danke, aber…". Das fand er erst gar nicht so gut. Nach und nach hat er aber gemerkt, dass ich ehrlich interessiert war und dass es nicht böse gemeint war. Deshalb haben wir uns über die Zeit auch immer besser kennengelernt. Ich war wohl von seinen Studenten derjenige, der an den Quellen am meisten interessiert war. Vielleicht sogar noch interessierter als er.
In deinen Konzerten steht vor allem geistliche Musik, insbesondere von Bach, auf dem Programm. Welchen Einfluss hat es auf deinen eigenen Glauben, dass du so viel geistliche Musik aufführst?
Koopman: Ich bin nur selten sonntags in der Kirche, weil ich mich dabei nicht unbedingt wohlfühle. Ich bin aber ein religiöser Mensch. Ab und an spiele ich bei Hochzeiten oder Beerdigungen von Freunden und ehemaligen Studenten. Erst neulich habe ich bei einer Hochzeit gespielt und der ganze Gottesdienst war sehr schön gestaltet und ergreifend. Das hat mir gut gefallen. Wenn es eine Kirche gäbe, in der man inspiriert wird, würde ich auch dahin gehen. Aber das gibt es zu selten.
"Ich würde gerne wissen, wie Bach seine eigene Musik empfunden hat."
Bis ich 27 Jahre alt war, war ich Organist in der Kirche. Dann kamen aber die E-Gitarren in die Kirche, weil man dachte, damit mehr Leute anzusprechen. Schnell hat man aber gemerkt, dass da nicht unbedingt Michael Jackson spielt und hat wieder aufgehört. Außerdem predigen viele Pfarrer mehr aus den Büchern als aus dem Herzen. Wenn ich als Musiker so spielen würde, fänden die Menschen das schrecklich. Leider, habe ich das Gefühl, merken die Pfarrer nicht, dass es auch an ihnen liegen könnte. Wenn sie wieder mehr aus dem Herzen predigen würden, würden auch wieder mehr Menschen kommen. Dann würde ich auch nicht nur zum Orgelüben in die Kirche gehen.
Wie würdest du dir wünschen, dass die Kirchen heute mit der Musik von Bach, Buxtehude und ihren Zeitgenossen umgehen?
Koopman: Man muss die Musik ernst nehmen. Ich habe das früher auch zum Beispiel mit Gregorianik erlebt. Da wurde die Musik für den Sonntag am Mittwoch vorher vielleicht 20 Minuten geprobt, auch wenn die Musik länger als 20 Minuten gedauert hat. Man muss die Musik im Gottesdienst aber ernsthaft vorbereiten.
Du hast mal gesagt, dass du, vor allem wegen der Medizin, nicht unbedingt in Bachs Zeit leben möchtest. Wenn du Bach aber einmal treffen könntest, was würdest du ihn fragen?
Koopman: Eine richtig gute Antwort darauf habe ich gar nicht. Vielleicht sollte ich mir die mal zurechtlegen. Ich würde aber zum Beispiel gerne wissen, wie Bach seine eigene Musik empfunden hat und ob es richtig ist, was wir heute mit seiner Musik machen? Geben wir vielleicht zu viel Rhythmus, weil wir Rock- und Popmusik gewohnt sind? Wenn ich in der Thomaskirche musiziere, habe ich immer das Gefühl, dass er mich beobachtet. Wenn er dann am Ende sagen würde: "Das war nicht schlecht", wäre ich schon ganz zufrieden. Ich wäre auch froh, wenn er sagen würde: "Danke. Du hast dir mit meiner Musik Mühe gegeben." Denn das habe ich immer getan und tue ich noch immer.
Mit deinen Aufnahmen, unter anderem alle Kantaten von Bach und das Gesamtwerk Dieterich Buxtehudes, hast du viel geleistet. Was hast du dir noch vorgenommen? Was möchtest du noch machen?
Koopman: Bei den CDs gibt es nicht so viel, nur vielleicht die Kantaten von Nicolaus Bruhns. Was ich aber gerne noch erreichen würde, ist die Rekonstruktion der Totentanzorgel in Lübeck. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg leider zerstört. Das war die Orgel, auf der Buxtehude gespielt hat. Der Weg dahin ist nicht ganz leicht, weil der Denkmalschutz nicht unbedingt auf unserer Seite ist. Aber zumindest genügend Quellen hätten wir, weil die Orgel kurz vor ihrer Zerstörung restauriert und sehr gut dokumentiert wurde. Ich bin aber überzeugt, dass wir das noch schaffen können.
Dein Vater hat als Liebhaber vor allem Jazz gespielt. Hat das auch dein Musizieren beeinflusst?
Koopman: Ich hatte selbst mit Jazz nicht viel zu tun. Ich fand es aber sehr faszinierend, wenn ich sehen konnte, wie sich seine Augen verändert haben, wenn er mit Freunden bei uns in der Wohnung musiziert hat. Er hat nie so ganz verstanden, warum mich Bach so begeistert. Beethoven und Wagner fand er noch in Ordnung, aber mit Bach konnte er so wenig anfangen, wie ich mit Jazz. Aber meine jüngste Tochter hat seine Liebe zum Jazz sozusagen geerbt.