Gewalt spielt bei Altersfreigaben für Filme und Serien naturgemäß eine entscheidende Rolle. Trotzdem sind Actionfilme oft schon ab zwölf Jahren freigegeben, obwohl die Fetzen fliegen. Aus Sicht des Jugendschutzes ist in solchen Fällen für junge Menschen offenkundig, dass es sich um Inszenierungen und nicht um die Wirklichkeit handelt.
Im Fall des ARD-Dramas "Ein Mann seiner Klasse" ist das gänzlich anders, weshalb eine Ausstrahlung um 20.15 Uhr zumindest bedenklich ist: Bei Erwachsenen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie die Filmfiguren, dürften viele Szenen womöglich bis hin zur Retraumatisierung erhebliche Beklemmungen auslösen; von Kindern ganz zu schweigen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Drehbuch von Nicole Armbruster und Marc Brummund, der auch Regie führte, basiert auf dem 2020 erschienenen gleichnamigen autobiografischen Roman von Christian Baron und erzählt vom Aufwachsen in prekären Verhältnissen. Baron ist Jahrgang 1985, die Handlung setzt im Frühjahr 1994 ein. Sie beginnt mit einer heiteren Entführung: Auf dem Schulweg wird Christian von seinem Vater Ottes eingesammelt, die Familie macht spontan einen Ausflug zum Freizeitpark.
Die Stimmung ist entsprechend gelöst, kippt allerdings, als es an einer roten Ampel fast zur Schlägerei kommt: Ein anderer Autofahrer kritisiert, dass die Mutter raucht, obwohl drei Kinder im Wagen setzen. Ottes hat eine extrem kurze Zündschnur und seine Impulse nicht unter Kontrolle, wie die großflächigen Hämatome auf dem Körper seiner Frau dokumentieren.
Eine entsprechende Szene, als Ottes hemmungslos auf die schwangere Mira (Mercedes Müller) einprügelt, ist schlimmer als jeder Horrorfilm und kaum auszuhalten; wer etwas Ähnliches erlebt hat, wird sich das nicht anschauen wollen. Trotzdem ist der Mann kein Monster, weil Leonard Kunz das Kunststück gelingt, diesem furchtbaren Vater auch liebenswerte Seiten abzugewinnen.
Ein erstes Zeichen setzt der Film zu Anfang, als er Mira im Freizeitpark mit der irischen Ballade "Danny Boy" und einem geklauten Plastikblumenstrauß nicht schön, aber laut ein Ständchen bringt und dafür Applaus von den Umstehenden bekommt. Später zeigt sich sein zärtliches Potenzial vor allem im Umgang mit Christian, zumal der Junge zum Zankapfel zwischen Ottes und seiner Schwägerin wird.
Als Mira an Krebs stirbt, nimmt Tante Juli (Svenja Jung) die drei Kinder ihrer Schwester zu sich. Ottes arbeitet zwölf Stunden am Tag, die restliche Zeit verbringt er größtenteils in der Kneipe, nüchtern ist er ohnehin nur selten; aber zumindest Christian will er nicht kampflos hergeben.
Der Sohn ist die zentrale Figur des Films, die Geschichte wird tagebuchartig und entsprechend episodisch größtenteils aus seiner Sicht erzählt; der junge Camille Loup Moltzen verkörpert die Rolle mit großer Glaubwürdigkeit. Das gilt auch und gerade für die scheinbar absurde Vaterliebe: Trotz allem bewundert Christian seinen Vater und will so werden wie er, obwohl Ottes nach gängigen Maßstäben ein Verlierer ist, der sich als Möbelpacker für einen Hungerlohn den Buckel krumm schuftet.
Als der Junge wider Erwarten eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommt, sind sich beide einig, dass er wie Ottes auf die Hauptschule gehen soll. Der Mann vom Jugendamt (Bernd Hölscher) ist der gleichen Meinung, zumal Christian von zwei Gymnasien abgelehnt wird. So gesehen grenzt es an ein Wunder, dass er schließlich, wie der Abspann verrät, Abitur gemacht hat und Journalist geworden ist.
Christian Baron ist in Kaiserslautern aufgewachsen, dort spielt der Film natürlich auch - was vermutlich eine echte Herausforderung war; nicht wegen des Drehorts, sondern wegen der Mitwirkenden, denn die Familie spricht breites Pfälzisch. Aus Gründen der Authentizität war es daher umso wichtiger, einheimische Mitwirkende zu finden, vor allem für die Rolle des Vaters.
Die Berlinerin Mercedes Müller hat vermutlich mit einem Dialektcoach gearbeitet, klingt aber für ungeübte Ohren sehr überzeugend. Selbst Nebenfiguren sind entsprechend besetzt worden, darunter auch die beiden Darsteller der Großväter, André Eisermann und Steffen Wink, der eine gleichfalls bedrückende Szene prägt, als Ottes Vater versucht, Juli zu vergewaltigen; der Apfel ist offenkundig nicht weit vom Stamm gefallen.
Das gilt auch für Christian, der seine Wut über den unzuverlässigen Erzeuger an einem Mitspieler seines Fußballteams auslässt. Brummund hat bereits bei seinem sehenswerten Kinodebüt "Freistatt" (2015) mit Armbruster zusammengearbeitet; das Sechzigerjahre-Drama handelte vom erschütternden Schicksal Jugendlicher in einem kirchlichen Fürsorgeheim.