Die Attacke ereignet sich ohne jede Vorwarnung: Das Auto wird hinterrücks gerammt und kracht in einen Container, beide Insassen verlieren das Bewusstsein. Ein Mann erschießt den Beifahrer und nimmt dessen Tasche an sich, die Fahrerin lässt er jedoch am Leben: Das ist der vor allem dank einer entsprechenden Musik packende Auftakt zu dem Polit-Thriller "Im Netz der Gier". Es folgt die genreübliche Rückblende ("19 Stunden vorher"), Anna Grawe (Tanja Wedhorn) joggt nachmittags durchs Berliner Regierungsviertel, als sie einen Anruf erhält. Anna ist Büroleiterin der Bundestagsabgeordneten Bea Kobe (Rosa Enskat). Die Politikerin berichtet von einer Verschwörung gegen sie und bittet ihre Mitarbeiterin, wichtige Unterlagen aus dem Bürotresor zu holen.
Anna erledigt den Auftrag und steckt plötzlich mittendrin in einem Schlamassel, der ihre Karriere abrupt beenden könnte: Ihre Chefin hat im Auftrag einer kasachisch-britischen Stiftung auffällig viele gut dotierte Vorträge gehalten; bei einigen dieser Termine war sie jedoch nachweislich im Bundestag. Prompt gerät auch Anna in den Strudel der Ermittlungen: Kurz nach ihrem Abstecher ins Büro steht eine Staatsanwältin (Clelia Sarto) samt Polizei vor ihrer Tür. Die Frau will wissen, wie Anna ihre Eigentumswohnung und das Studium ihrer Tochter an einer Privat-Uni in London finanzieren konnte; und wo der Umschlag aus dem Büro ist.
Der Kern von Michael Vershinins Drehbuch erinnert an "Katar-Gate", den Korruptionsskandal im Europäischen Parlament, als sich 2022 rausstellte, dass mehrere Abgeordnete enorme Summen aus dem Wüstenstaat erhalten hatten, um dessen Interessen zu vertreten. Daniel Harrich hat sich durch den Skandal zu seinem Polit-Thriller "Am Abgrund" (2024) inspirieren lassen; darin ging es um die Einflussnahme Aserbaidschans auf den Europarat. In Vershinins Szenario ist das autokratische Regime in Kasachstan der Drahtzieher. Allerdings widerfährt dem Thriller ein erheblicher Spannungsabfall, als Anna samt Tochter Larissa (Paula Hartmann) fluchtartig Berlin verlässt, um bei Mutter Magda (Jutta Wachowiak) in Mecklenburg-Vorpommern Schutz zu suchen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Nun wandelt sich der Film vorübergehend zu einem Heimat- und Familiendrama, das optisch zwischenzeitlich an die Freitagsfilmreihe "Praxis mit Meerblick" (ebenfalls mit Wedhorn) erinnert, zumal auch Tempo und Intensität nachlassen. Dazu passt eine neue Nebenebene: Ein von Kobe unterstütztes Yachthafenprojekt soll vermögende Touristen in den Küstenort locken. Anna hat ihrer einst in den Westen übergesiedelten Mutter zudem nie verziehen, dass sie die damals 15jährige Tochter entwurzelt hat, um nach der "Wende" in ihre alte Heimat zurückzukehren. Natürlich spielt auch ihre Jugendliebe Alexander (Kai Scheve) noch eine wichtige Rolle.
Dass sich "Im Netz der Gier" in solchen Beliebigkeiten verliert, ist sehr bedauerlich, selbst wenn ausgezeichnete Musik von Chris Bremus auch weiterhin im Hintergrund lauert; auf diese Weise bekommt immerhin selbst eine schlichte Überlandfahrt einen bedrohlichen Unterton. Außerdem sorgt ausgerechnet Larissa dafür, dass sich die Ereignisse zuspitzen: Die junge Frau hat, wie der Film schon gleich zu Beginn verrät, ein Verhältnis mit Igor Parygin (Eugen Knecht), dem verheirateten Repräsentanten der Stiftung; er hat bei ihrem Stipendium "nachgeholfen". Als er die Affäre beendet, begeht sie den fatalen Fehler, ihn mit einem Sexvideo zu erpressen. Der Mann hat keine Skrupel, über Leichen zu gehen, um seine Machenschaften zu vertuschen, und endlich wird’s wieder spannend: Der Angreifer aus dem Prolog soll das Video um jeden Preis löschen, denn es enthält mehr als nur die Sexszene; jetzt geht es für Anna und Larissa ums nackte Überleben.
Die optische Anmutung (Kamera: Bernd Fischer, Regie: Franziska Schlotterer) entspricht einem guten Fernsehfilmniveau und erfreut zwischendurch mit kalendertauglichen Landschaftsimpressionen. Das passt zwar nur bedingt ins Thrillergenre, aber dennoch ins Bild, weil das Anfangsthema zunehmend in den Hintergrund rückt. Immerhin bleibt zunächst offen, ob Anna bloß naiv oder tatsächlich in die Machenschaften ihrer Chefin verstrickt war (der Arbeitstitel lautete "Ende der Unschuld"). Spannend wird es jedoch erst wieder im letzten Akt. Parygins Mann fürs Grobe ist ein kaltblütiger Killer; Jörg Pose versieht ihn dennoch mit einer gewissen unterschwelligen Sympathie. Viele andere Rollen sind dagegen eher klischeehaft ausgefallen, denn alle wollen, wie Alexander resigniert feststellt, "nur noch abkassieren".