Die große Kunst des Drehbuchschreibens liegt in der Variation, schließlich sind fast alle Geschichten schon mal erzählt worden. Die fast noch größere Herausforderung ist jedoch die Konzeption einer Serienfortsetzung: Die zweite Staffel soll all’ das bieten, was schon die erste ausgezeichnet hat, aber natürlich neue Reizpunkte setzen. Wie gut Ralf Husmann diese Kunst beherrscht, hat er fünf Staffeln lang mit jener ProSieben-Produktion bewiesen, die ihm wie auch den Ensemblemitgliedern eine Vielzahl von Preisen eingebracht hat.
"Stromberg" (2004 bis 2012) war zwar inspiriert durch ein britisches Vorbild, bescherte dem deutschen Fernsehen aber eine ganz neue Erzählform. Rund um den herausragenden Titeldarsteller Christoph Maria Herbst und die kongeniale Kölner Kollegin Annette Frier hat Husmann einige Jahre später fürs ZDF "Merz gegen Merz" (2019) konzipiert, eine achtteilige Serie über ein Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat. Die häusliche Trennung lässt sich zwar einigermaßen reibungslos bewerkstelligen, doch Anne und Erik Merz sehen sich auch weiterhin täglich: Sie arbeiten beide in der Firma von Annes Vater (Michael Wittenborn), und weil Ludwig an Demenz leidet, hat Erik nun das Sagen.
Mit Hilfe neuer Figuren und einer geschickten Verlagerung der Schwerpunkte ist es Husmann gelungen, dieser im Grunde überschaubaren Basis zwei weitere Staffeln abzutrotzen. 2023 folgte ein Fernsehfilm ("Hochzeiten"), der erneut durch erlesene Dialoge voller kleiner und großer Gemeinheiten erfreute, denn wann immer sich Erik und Anne über den Weg laufen, fallen sie prompt in alte Muster zurück. Die neunzig Minuten endeten mit einem halbwegs versöhnlichen Familienfest: Sohn Leon (Philip Noah Schwarz) heiratete seine Freundin Soraya (Süheyla Ünlü), Eriks Eltern (Carmen-Maja Antoni, Bernd Stegemann) feierten die fünfzigste Wiederkehr ihres Hochzeitstags. Die Festgäste einigten sich auf die Devise "Hauptsache glücklich", aber das Glück war, wie die Fortsetzung ("Geheimnisse") zeigt, nur von kurzer Dauer: Die nächste Bosheit kommt bestimmt.
In den Details bleibt Husmann der bewährten Konstellation treu: Erik stänkert bei jeder Gelegenheit ("Hilfskasper") gegen Annes neuen Freund Jonas (Nikolaus Benda), der in der Tat nicht die hellste Kerze auf der Torte ist. In Wirklichkeit ist Erik natürlich eifersüchtig; er träumt von einem Comeback bei Anne. Die wiederum setzt munter den ewigen Kleinkrieg mit ihrer Mutter (Claudia Rieschel) fort. Maria geht zwar neuerdings zur Therapie, aber auch das ändert nichts daran, dass sie ihre Tochter bei jeder sich bietenden Gelegenheit bloßstellt. Anlässe bieten sich reichlich, denn der Mutter hat die Zusammenkunft der Sippe bei der Hochzeit derart gut gefallen, dass sie auf der Stelle die Tradition eines monatlichen Familientreffens eingeführt hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die gleichermaßen witzigsten wie berührendsten Momente hat allerdings erneut Michael Wittenborn, der Annes Vater nie zur Witzfigur verkommen lässt, zumal Ludwig ein ums andere Mal fröhlich in den Napf mit dem heißen Brei tritt, um den die anderen stets drumherum reden. Er ist es auch, der die Familie um ein neues Mitglied bereichert, denn als Anne eine Finanzspritze für ihre gemeinsam mit Jonas gegründete Event-Agentur braucht und einen Vorschuss aufs Erbe möchte, stellt sich beim gemeinsamen Anwaltstermin heraus, dass Ludwig eine uneheliche Tochter hat. Die heißt ebenfalls Anne (Anne Weinknecht), entpuppt sich als patente Leiterin eines Tierheims und freut sich, plötzlich ganz viele Verwandte zu haben.
Zentrale Figur des zweiten roten Fadens ist Leon, der Sorayas kleinen Sohn adoptieren möchte. Dessen rustikaler Erzeuger Rico (David Hürten) hält ihn jedoch für einen "Lauch" und will nicht, dass der Junge ebenfalls "eingelaucht" wird. Als sich nacheinander erst Erik und dann Anne einschalten, kommt es zu witzigen Konfrontationen, bei denen Rico umgehend rausfindet, von welcher Elternseite Leons "Lauchigkeit" stammt. Die Themen sind also durchaus dramatisch, was durch die Musik und die Songauswahl allerdings hartnäckig konterkariert wird. Das ändert sich erst im letzten Akt, als gänzlich unerwartet auch Erik von einem familiären Geheimnis erfährt. Wie es Husmann allen Verwicklungen zum Trotz gelingt, auch diesmal wieder die Vorzüge von Angehörigen, die man sich freiwillig niemals ausgesucht hätte, hervorzuheben, ist tatsächlich erstaunlich. Manche Familien, heißt es gegen Ende, sind wie Regen; aber ohne Regen wäre das Leben langweilig. Regie führte Felix Stienz, der bereits fast alle Serienfolgen und auch "Hochzeiten" inszeniert hat.