"Sie sind Teil von etwas sehr Großem": Das klingt zwar gut, ist aber nur ein schwacher Trost, wenn der Preis für die vermeintlich große Sache das eigene Leben ist. Davon abgesehen ist es ohnehin fraglich, ob der Betroffene den Satz überhaupt wahrnimmt: Seit einem nächtlichen Überfall liegt Oberstaatsanwalt Mehringer im Wachkoma. Die Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, wie ein Mann brutal auf ihn eintritt; überlebt hat er nur, weil eine Frau im letzten Moment beherzt eingegriffen hat. Das ist nun bereits drei Wochen her, der Jurist wird in eine Spezialklinik verlegt, deren Leiterin Mehringers Ex-Frau Anna allerdings keine Hoffnungen auf Genesung macht.
In dieser Hinsicht sind selbst Sarah Kohr Grenzen gesetzt, aber natürlich gibt es einen letzten Dienst, den die Hamburger LKA-Polizistin ihrem Freund erweisen kann: Sie wird den Mann finden, der ihm das angetan hat. Annas Einschätzung trifft es perfekt: "Sarah Kohr ist eben anders. Meistens wütend. Aber vielleicht ist das jetzt was Gutes." "Koma" ist der zehnte Film aus der stets sehenswerten Reihe. Die Krimis und Thriller sind immer dann besonders fesselnd, wenn die Titelheldin ein Verbrechen persönlich nimmt. Das gilt diesmal zwar erst recht, aber seine Intensität verdankt der Film neben dem zunehmend vielschichtigen neunten "Kohr"-Drehbuch von Timo Berndt der Umsetzung durch Mike Marzuk.
Der Regisseur der "Fünf Freunde"-Kinoreihe (2012 bis 2017) hat bereits auf ähnlich hohem Niveau die achte Episode "Irrlichter" (2022) inszeniert. Wie gut er sich auf Timing, Tempo und Rhythmus versteht, hat er zuletzt erst wieder mit der turbulenten Kinokomödie "Die Chaosschwestern und Pinguin Paul" (2024) bewiesen. Die Spannung des Films resultiert zunächst jedoch vor allem aus der Frage, ob der Überfall auf Mehringer (Herbert Knaup) bloß Zufall oder ein gezielter Mordversuch war.
Kohr (Lisa Maria Potthoff), über die es sinngemäß heißt, sie sei unberechenbar, weil sie nicht nach den üblichen Regeln spiele, entwickelt eine spezielle Strategie, um den Fall zu klären: Sie sucht nach Schnittmengen. Nun zeigt sich Berndts ganze Klasse, denn nach und nach offenbart sich, dass ausnahmslos alle Personen, denen die Kommissarin im Verlauf der Handlung begegnet, miteinander verbunden sind; und fast alle nicht im Guten. Auf diese Weise entsteht ein komplexes Beziehungsgeflecht, das jedoch nie unübersichtlich wird. Obwohl zwangsläufig nicht viel Zeit für die einzelnen Figuren bleibt, wirken sie zudem nicht oberflächlich: hier eine junge Mutter, die unter einer bipolaren Störung leidet und daher ihr Kind zur Adoption freigegeben hat, dort zwei homosexuelle Väter, über deren Ehe eine dunkle Wolke schwebt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Ähnlich tragisch ist das Dasein einer Polizistin (Nadja Bobyleva), die nach einem Unfall beim Schießtraining von immer stärkeren Schmerztabletten abhängig ist. Wie Berndt diese Geschichten plausibel verwoben hat, ist sehr beeindruckend, zumal die Schicksalsschläge das kriminelle Verhalten dieser Figuren erklären. Das gilt sogar für die Person, die zu einer lebensgefährlichen Bedrohung für Kohr wird. Die heftigen Zweikämpfe sind so etwas wie das Alleinstellungsmerkmal der Reihe. Diesmal hat die Kommissarin zwar nur einen Gegner (Adrian Topol), doch auf den trifft sie gleich mehrfach; und jedes Mal kommt sie nur knapp davon. Dass diese Rolle im deutschen Fernsehen ihresgleichen sucht, liegt dennoch vor allem am lakonischen Spiel der Hauptdarstellerin.
Die Kampfszenen sind erneut perfekt choreografiert und entsprechend packend, aber mindestens ebenso typisch ist der sardonische Humor, mit dem Lisa Maria Potthoff die Ermittlerin versieht. Eine Kollegin bezeichnet Kohr mal als Bluthund, weil sie sich fast schon besessen in ihre Fälle verbeißt. Tatsächlich ist sie als einsame Wölfin im Grunde eine Westernfigur. Als solche braucht sie einen würdigen Widerpart, und auch diese Rolle ist faszinierend ambivalent: Johanna Gastdorf verkörpert die Leiterin der Wachkomaklinik als medizinische Koryphäe, die als Mutter allerdings komplett versagt hat.
Außerdem deutet der Film früh an, dass sich hinter dem empathischen Auftreten eine sinistre Seite verbirgt. Entsprechend düster ist die Bildgestaltung (Kamera: Patrick D. Kaethner). Bei Kleidung und Einrichtung wurden gedeckte Farben bevorzugt, viele Szenen spielen im Zwielicht und sind oft nur durch Restlicht illuminiert. Die Panoramaaufnahmen zeigen Hamburg ausschließlich bei Nacht; auch auf Mehringer wartet am Ende die Dunkelheit. Die vorzügliche Musik (Boris Bojadzhiev) sorgt für die passende Atmosphäre.