TV-Tipp: "In einem Land, das es nicht mehr gibt"

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6. September, Arte, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "In einem Land, das es nicht mehr gibt"
Mit typischer Arroganz haben sich nach der friedlichen Revolution 1989 viele im Westen fragt, weshalb sich die Menschen im Osten nicht schon längst gewehrt hätten. Aelrun Goette zeigt zu Beginn ihres durch eigene Erfahrungen inspirierten Films, wie die Staatsmacht schon das kleinste Aufbegehren im Keim erstickte.

"Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt", "Es gibt kein richtiges Leben im falschen", "Fesseln spürt nur, wer sich bewegt": Das sagt sich alles so leicht. Mit typischer Arroganz haben sich nach der friedlichen Revolution 1989 viele im Westen fragt, weshalb sich die Menschen im Osten nicht schon längst gewehrt hätten. Aelrun Goette zeigt zu Beginn ihres durch eigene Erfahrungen inspirierten Films, wie die Staatsmacht schon das kleinste Aufbegehren im Keim erstickte. Im Westen gab es einst den im Grunde keineswegs witzigen Aufkleberspruch "Ein kluges Wort, und schon ist man Terrorist". In der DDR genügt der Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen", und schon wird die angehende Abiturientin Susanne (Marlene Burow) im Frühjahr 1989 verhaftet. Als die Polizisten dann auch noch George Orwells aus gutem Grund verbotenen Roman "1984" zwischen ihren Schulsachen finden, kann sie ihr Literaturstudium vergessen. Susanne wollte Schriftstellerin werden; nun landet sie im Kabelwerk Oberspree.

Mit dem geplatzten Traum beginnt die vielfach ausgezeichnete Regisseurin ihre Geschichte denkbar düster. Dann jedoch nimmt die Handlung eine Wende, die fast zu schön ist, um wahr zu sein, aber so ähnlich hat es die zweifache Grimme-Preisträgerin tatsächlich selbst erlebt: Auf dem Weg zur Arbeit wird Suzie von einem Fremden fotografiert. Die Aufnahme erscheint ganzseitig in der Modezeitschrift "Sibylle": "Sommerträume in der Straßenbahn". Eine Karriere als Mannequin ist eigentlich der Traum der zwölfjährigen Schwester Kerstin (Zoé Höche), und die schreibt nun an das Magazin. Die Antwort kommt prompt: Susanne, von allen Suzie genannt, weil ihre verstorbene Mutter ein Riesenfan von Suzie Quatro war, wird in die Redaktion eingeladen.

Die Chefredakteurin (Claudia Michelsen) erkennt das Potenzial der jungen Frau, aber es ist vor allem der extravagante Modeschöpfer Rudi (Sabin Tambrea mit Sting-Frisur), der ihr Zugang zu einer völlig neuen Welt öffnet. Es gelingt Suzie tatsächlich, dem tristen Arbeitsalltag des Kabelwerks mit den feindseligen Kolleginnen zu entfliehen, aber nun wird sie mit einer ganz anderen Frage konfrontiert: Welchen Preis ist sie zu zahlen bereit, um ihren Traum zu leben? Auch Goette ist einst nach dem Schulverweis als Mannequin entdeckt worden, allerdings bereits 1985. 

Die Verlagerung der Handlung in den Sommer 1989 eröffnet ihr die Möglichkeit, die Geschichte zuzuspitzen: Die DDR ist längst ein toter Gaul; allein die grauen Parteibonzen verschließen sich hartnäckig der Realität und versuchen immer noch, das Pferd zu reiten.  Staunend entdeckt Suzie mit der Subkultur, in die der homosexuelle Rudi sie einführt, eine ihr gänzlich unbekannte Seite der DDR, und natürlich kostet der Film die Gegensätze auch dank der vorzüglichen Bildgestaltung (Benedict Neuenfels) weidlich aus: hier die dank entsprechender Farbgebung und Lichtsetzung düstere Atmosphäre im Kabelwerk, wo allein Brigadeleiterin Gisela (Jördis Triebel) auch mal ein nettes Wort für Suzie findet, dort die bunte laute Subkultur, aus der sie schließlich ebenfalls ausgeschlossen wird, weil sie plötzlich als Stasi-Spitzel gilt. 

Zur dritten zentralen Figur neben Suzie und Rudi wird jedoch mehr und mehr der Mann, dem sie ihre Wanderungen zwischen den Welten zu verdanken hat, und David Schütter fügt seiner facettenreichen Filmografie eine weitere faszinierende Figur hinzu: Er verkörpert den Fotografen, den alle nur Coyote nennen, wie eine Hommage an jene Rolle in dem Klassiker "Der Wilde" (1953), die Marlon Brando einst zum Idol der "Halbstarken" machte. Querkopf Coyote hat faktisch Berufsverbot, seine Fotos dürfen nicht veröffentlich werden, was die "Sibylle"-Chefin gelegentlich großzügig ignoriert. Zwischen Coyote und Suzie entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die ebenfalls ein abruptes Ende findet, als es ihm gelingt, Fotos von einer skandalös endenden Präsentation in den Westen zu schmuggeln.

Spätestens bei dieser Modenschau vor dem Präsidenten der Volkskammer und erst recht beim rauschenden Lack-und-Leder-Finale im Stil der "Rocky Horror Picture Show" erweist sich Regina Tiedeken als weitere wichtige Mitwirkende; ihr Kostümbild ist 2023 für den Deutschen Filmpreis nominiert worden. Preiswürdig ist auch die Hauptdarstellerin. Marlene Burow hatte bis dahin in diversen Serien mitgewirkt; später wird es in Artikeln über sie heißen, "In einem Land, das es nicht mehr gibt" sei ihr Durchbruch gewesen. Die Deutsche Film- und Medienbewertung hat dem Film das Prädikat "Besonders wertvoll" verliehen.