Wenn sich eine sechs Stunden lange Geschichte in einem Satz zusammenfassen lässt und der Titel im Grunde das perfekte Destillat der Handlung ist: Dann liegt die Vermutung nahe, dass Hans-Christian Schmid aus seiner Miniserie "Das Verschwinden" auch einen Fernsehfilm hätte machen können. Theoretisch wäre das sogar möglich, aber es ist gerade die ausufernde Länge von 360 Minuten, die erst den Reiz des Mehrteilers ausmacht.
Schmid, für Filme wie "Nur für eine Nacht", "23 – Nichts ist so wie es scheint", "Lichter" oder "Requiem" mit sämtlichen wichtigen Filmpreisen ausgezeichnet, erzählt in seiner ersten großen Fernseharbeit (TV-Premiere war 2017) gemeinsam mit seinem vertrauten Koautor Bernd Lange die Geschichte von Michelle (Julia Jentsch), einer alleinerziehenden Mutter, die in einer bayerischen Kleinstadt an der tschechischen Grenze mit wachsender Verzweiflung nach ihrer Tochter sucht. Am Abend ihres Geburtstags hatte Janine (Elisa Schlott) mit ihren Freundinnen Manu (Johanna Ingelfinger) und Laura (Saskia Rosendahl) in einer Disco gefeiert; anschließend ist sie verschwunden.
Ähnlich wie Nils Willbrandt in seinem ZDF-Dreiteiler "Mörderisches Tal – Pregau" (2016) nutzen Lange und Schmid die Zeit, um ihre Charaktere mit einer Sorgfalt zu entwerfen, wie dies in einem neunzigminütigen Fernsehfilm niemals möglich wäre. Natürlich endet jede Folge mit einem gemeinen Cliffhanger, das gehört zur Grundausstattung jedes Mehrteilers; aber solche Reize verpuffen erfahrungsgemäß recht schnell, wenn die Fortsetzung nicht hält, was der dramaturgische Kniff verspricht. Tatsächlich sind es die Figuren, die den für solche Miniserien lebenswichtigen Sog herstellen.
Das Drehbuch setzt dabei nicht nur auf die zwar wirkungsvolle, aber auch schlichte Variante, dass praktisch jeder der Beteiligten etwas zu verbergen hat; viel entscheidender sind die Entwicklungen, die sämtliche Figuren durchmachen. Mit Ausnahme des ermittelnden Polizisten Köhler (Martin Feifel), der als einziger in dieser Geschichte exakt so loyal und aufrecht ist, wie er scheint, wechselt jeder im Verlauf der Handlung mindestens einmal die Schublade, weil wie im wahren Leben niemand nur gut oder nur böse ist. Auch Michelle macht Fehler, die sie sich selbst kaum verzeihen kann. Köhler sagt zwar, in der Stadt lebten lauter "gute Leute, auch wenn sie nicht immer Gutes tun"; aber alle lügen sich um Kopf und Kragen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Gerade die Eltern der jungen Frauen wollen die Dinge noch unter den Teppich kehren, als schon längst kein Teppich mehr da ist, weshalb "Das Verschwinden" auch eine Geschichte über das Unverständnis zwischen den Generationen ist. Da in der Kleinstadt außerdem jeder jeden kennt, sind einige auch miteinander verwandt, ohne es zu ahnen. Ganz abgesehen von dieser individuellen Komplexität hätte schon die schiere Menge an handelnden Personen eine straffere Erzählweise kaum möglich gemacht, denn sämtliche Mitglieder des gut zwanzigköpfigen Ensembles sind für die Geschichte unverzichtbar.
Faszinierender noch als die zunächst gar nicht so kompliziert wirkende Handlung, die mit jeder Antwort wieder neue Fragen aufwirft, ist daher das Beziehungsgeflecht, das Lange und Schmid entwerfen: weil sich Menschen, die allem Anschein nach gar nichts miteinander zu tun haben, sehr gut kennen. Auch dies führt dazu, dass die Personen in einem immer wieder anderen Licht erscheinen: Aus neuer Perspektive betrachtet spielen sie plötzlich auch eine neue Rolle. Ein liebevoller Vater wird zum Verräter, weil er auch ein Liebhaber ist; und ein skrupelloser Dealer entpuppt sich als sympathischer junger Mann.
Der Stoff, aus dem in "Das Verschwinden" die Träume sind, ist Crystal Meth, das in großen Mengen in Tschechien hergestellt und über die offene Grenze geschmuggelt wird. Die Droge sorgt für das "Gift im Kopf", wie es Manu formuliert. Die jungen Frauen hatten auf ein schnelles Geld gehofft und einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, nun zahlen alle drei nacheinander die Quittung; das ist der Krimianteil der Geschichte, bei deren Umsetzung Schmid, ohnehin alles andere als ein effekthascherischer Regisseur, allerdings komplett auf die üblichen Krimielemente verzichtet.
Ein Polizeieinsatz im tschechischen Großlabor ist das einzige Zugeständnis an entsprechende Erwartungen. Es fallen zwar Schüsse, aber nur im Rahmen einer Hirschjagd. Es gibt keine Verfolgungsjagden oder andere Action-Elemente, nicht mal Sex. "Das Verschwinden" ist kein Film für die Sinne, sondern ein gerade von den jungen Schauspielern bemerkenswert gut gespieltes Krimidrama für den Kopf. Teil zwei folgt im Anschluss, die Teile drei und vier am kommenden Dienstag zur gleichen Zeit.