Die Filme wollen mehr als bloß von Ermittlungsarbeit erzählen. In der achten Episode gibt es einen Moment, der typisch für diese Haltung ist: Die frühere Freundin einer ermordeten jungen Frau trifft sich mit deren Vater auf dem Friedhof. Der Mann war gegen die Beziehung, vielleicht kam er auch nicht damit klar, dass seine Tochter lesbisch war, aber nun versöhnen sich die beiden. Zur Wahrheitsfindung hat dieser berührende Augenblick nichts beizutragen, doch er sorgt für eine empathische Erweiterung des gewohnten Krimischemas, in dem für Trauer meist nicht viel Platz ist.
Ansonsten erzählt Mathias Schnelting in seinem zweiten "In Wahrheit"-Drehbuch nach "Jette ist tot" (2018) eine nicht weiter ungewöhnliche Krimigeschichte: Nach dem Fund einer erstickten Praxishilfe in einem Saar-Wehr erinnert sich die französische Rechtsmedizinerin (Sandra Bourdonnec) an einen Mord, der vor fünf Jahren auf der anderen Seite der Grenze begangen worden ist. Das Opfer war Krankenschwester, beide Frauen sind mit einem Narkosemittel betäubt worden. Damals ist es zum Prozess gegen einen Pharmareferenten gekommen, aber Serge Roubaix (Jean-Luc Bubert) ist aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Als Judith Mohn (Christina Hecke) den Pflichtverteidiger des Mannes aufsucht, bringt Schnelting, der unter anderem die Drehbücher für diverse sehenswerte "Helen Dorn"-Krimis (ZDF) geschrieben hat, ein reizvolles weiteres Element ins Spiel: Das Interesse der Polizistin an Alain Montand (Pierre Kiwitt), der das Metier gewechselt und das Weingut seiner Eltern übernommen hat, geht spürbar über die berufliche Ebene hinaus.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Ihre Gefühle werden die Kommissarin später selbstredend noch in Schwierigkeiten bringen, denn nun ist sie nicht mehr unbefangen, wie der Kollege Breyer (Robin Sondermann) zu Recht anmerkt. Zunächst konzentriert sich das Duo jedoch auf den Chef des zweiten Opfers: Bereits beim ersten Besuch in der Praxis von Christian Peters stellt Breyer fest, dass der Doktor seinen Mitarbeiterinnen allzu nah auf die Pelle rückt.
Überwachungskamerabilder aus einer Hotellobby beweisen, dass Arzt und die Angestellte kurz vor deren Tod einen heftigen Streit hatten: Er hatte die "Honeymoon Suite" reserviert, sie wollte ihn offenbar nicht begleiten. Der Arzt als Täter wäre jedoch eine Beleidigung der Intelligenz aller Krimifans, zumal schon die Besetzung mit Tobias van Dieken das Ablenkungsmanöver erahnen lässt.
Viel interessanter ist der juristische Hintergrund der zweiten Ebene, denn Schnelting hat sich bei der Konzeption seines Drehbuchs mit dem Prinzip des "Ne bis in idem" auseinandergesetzt: Niemand darf zweimal wegen eines Verbrechens angeklagt werden; es sei denn, es liegt ein Geständnis vor. Damit ist nicht zu viel verraten, wie schon der Filmtitel andeutet. Er bezieht sich auf ein Zitat Mohns: Recht und Gerechtigkeit seien wie zwei Königskinder, die nicht immer zusammenfänden. Der Arbeitstitel "Späte Rache" ist noch eindeutiger. Montand beantwortet die Frage der Kommissarin nach seiner Meinung zum alten Fall zwar ausweichend, räumt aber später ein, er sei von der Schuld seines Mandanten überzeugt gewesen.
Reizvoller als die sich abzeichnende Entwicklung der Krimiebene sind daher die von der bisherigen "Soko"-Regisseurin Kirsten Laser dank der Mitwirkenden und der guten Bildgestaltung (Rodja Kükenthal) stimmig umgesetzten Zwischenmenschlichkeiten. Gerade die Szenen mit Christina Hecke und Pierre Kiwitt sind sehr sympathisch, zumal er als Sohn einer Französin und eines Deutschen auch sprachlich eine passende Besetzung für die zweisprachige Rolle ist. Deshalb ist es umso unglaubwürdiger, dass Montand am Ende einen langen Dialog mit einem Landsmann auf Deutsch führt, beide mit starkem Akzent. Zu den schönen Momenten des Films gehören hingegen die Auftritte von Steffi Kühnert als Mohns Mutter und Rudolf Kowalski als Ex-Kommissar Zerner, der diesmal nicht als Kriminalist, sondern als starke Schulter gefragt ist.
Ansonsten fällt "Zwischen Recht und Gerechtigkeit" gerade auch im Vergleich zu früheren Filmen der 2017 gestarteten Reihe nicht weiter aus dem Rahmen. In Erinnerung bleibt neben der gern fortzusetzenden Romanze vor allem die clevere Klammer zwischen dem Prolog und einer Rückblende gegen Ende, als eine Veränderung der Schärfe die Auflösung des Falls bestätigt. Hörenswert ist auch die vielfältige Musik von Hansjörg Kohli.