"Maji-Maji-Krieg? Nie gehört", sagt die 17-jährige Sarah in Frankfurt am Main. Auch die angehende Abiturientin Magdalene in Hamburg hat in der Schule nichts über deutsche Kolonialverbrechen in Ostafrika wie die brutale Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes erfahren. Überhaupt sei die Kolonialvergangenheit nur am Rande im Geschichtsunterricht gestreift worden. Ein großes Versäumnis - mit Folgen für die Gesellschaft und die Demokratie, findet Merel Fuchs vom Verein "Decolonize Berlin".
"Die Auseinandersetzung mit unserer Kolonialgeschichte ist auch für uns und die Gegenwart wichtig", betont die Politikwissenschaftlerin. "Die Kolonialzeit ist kein abgeschlossenes Kapitel." Rassismus und Stereotype sind nach wie vor verbreitet, Ausbeutung, Abhängigkeiten und Ungerechtigkeiten setzen sich im Konsum oder im Umgang mit der Klimakrise fort.
Und dann gibt es noch die tiefen Wunden der Kolonialverbrechen, für deren Entschädigung Aktivist:innen wie Merel Fuchs sich starkmachen. Sie fordert: "Das Thema deutscher Kolonialismus muss zum Pflichtthema im Geschichtsunterricht werden." In den Lehrplänen werde es recht offen gehalten, und im Unterricht nehme es nach ihrer Einschätzung oft nur einen kleinen Raum ein. Kolonialverbrechen würden nur teilweise thematisiert.
Deutschland war bis 1919 Kolonialmacht, unter anderem ab 1884 auf dem Gebiet des heutigen Namibia, dem damaligen Deutsch-Südwestafrika, oder ab 1885 im heutigen Tansania, Ruanda und Burundi ("Deutsch-Ostafrika"). Auch Kamerun und Togo sowie Inseln im Pazifik und die heute zu China gehörende Region Kiautschou waren deutsche "Schutzgebiete".
Völkermord an den Herero und Nama
Das Kaiserreich schlug Versuche der Bevölkerung, sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung aufzulehnen, gnadenlos nieder. Im damaligen Deutsch-Südwestafrika beging es Völkermord an den Herero und Nama, mehr als 80.000 Menschen wurden getötet oder verdursteten in der Wüste. In Ostafrika reagierten die deutschen Truppen 1905 bis 1907 mit aller Härte auf den sogenannten Maji-Maji-Aufstand, zerstörten Felder und Dörfer und hungerten die Bevölkerung aus. Schätzungen zufolge gab es bis zu 300.000 Opfer.
2004 entschuldigte sich die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) erstmals für den Völkermord an den Herero und Nama. Damit wurde die Kolonialvergangenheit im heutigen Namibia zum Thema in der deutschen Öffentlichkeit - und bekam auch mehr Raum in den Schulbüchern, wie Marcus Otto vom Leibniz-Institut für Bildungsmedien, dem Georg-Eckert-Institut (GEI) in Braunschweig, erklärt.
In den Büchern komme die deutsche Kolonialzeit inzwischen zunehmend auch mit Relevanz für die Gegenwart an, sagt der Historiker und Soziologe. Allerdings werde dabei zuweilen ein kolonialer Blick unbewusst reproduziert, wenn die Verwendung alter Bildquellen, Stereotype und Bezeichnungsweisen nicht ausreichend reflektiert werde. Mehrere Verlage hätten dazu aber bereits den Austausch mit Fachleuten des Georg-Eckert-Instituts gesucht.
Unzählige gestohlene Kulturgüter in Museen
Ganz wichtig sei, die Lehrwerke zu dem Thema nicht auf die deutsche Perspektive zu begrenzen, betont Stefanie Hein, Redaktionsleiterin für Gesellschaftswissenschaften beim Cornelsen Verlag. Die Stimme der Kolonialisierten müsse gehört werden. Gegenwartsbezug und Aufarbeitung spielen auch nach Angaben anderer Verlage wie Klett, Buchner oder Westermann zunehmend eine Rolle.
Als Ansatzpunkt für den Unterricht können etwa die Namen von Straßen und Plätzen dienen, die nach damaligen "Kolonialhelden" benannt wurden. Oder die Tatsache, dass noch immer unzählige gestohlene Kulturgüter in deutschen Museen und Archiven lagern. Auch Schädel und Gebeine - oft von Hingerichteten - brachten die Deutschen mit nach Europa. Für die Nachfahren ist es gleichermaßen unerträglich, dass ihre Ahnen der Kolonialgewalt zum Opfer fielen und nicht einmal eine letzte Ruhestätte fanden.
Die Gewichtung des Themas in Schulbüchern unterscheidet sich nach Schulform und Bundesland. Der Umfang ist begrenzt, die Redaktionen in den Verlagen müssen Schwerpunkte setzen.
Dass das Thema im Schulbuch stehe, heiße noch lange nicht, dass es genutzt werde, sagt Patrick Mielke von der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, der zur Umsetzung von Geschichtsbüchern im Unterricht geforscht hat. "Das sind oft ganz schnöde Alltagsentscheidungen", erklärt er mit Blick auf die Fülle des Lehrplans und Zeitdruck. Und das Lehrbuch sage außerdem nichts darüber aus, wie der Inhalt vermittelt werde: Schon die Wörter, die die Lehrkraft verwende, könnten ungewollt koloniale Stereotypen reproduzieren.
Deshalb fordern "Decolonize"-Initiativen, dass das Thema auch an den Unis und in der praktischen Lehrkräfteausbildung auf die Agenda kommt. "Ich glaube schon, dass sich etwas tut", sagt Merel Fuchs. "Aber es verändert sich sehr, sehr, sehr langsam."
Magdalene in Hamburg weiß inzwischen, was im Maji-Maji-Krieg passierte. Sie hat es sich selbst angelesen. Und Sarah aus Hessen erfährt es vielleicht im neuen Schuljahr im Oberstufenunterricht.