evangelisch.de: Herr Treichel, die Evangelische Männerarbeit schreibt den Männerpredigtpreis 2024 aus. Der Titel lautet "‚Es ist dir gesagt, Mann, was gut ist‘ (nach Mi 6,8) – Wofür stehst du?": Wieso wurde dieses "Motto" gewählt? Haben Sie das Gefühl, dass viele Menschen bzw. Männer nicht mehr wissen, was gut und schlecht ist?
Martin Treichel: Wir beschließen jedes Jahr ein Thema und versuchen dabei immer, ein biblisches Zitat mit einem aktuellen gesellschaftlichen bzw. kirchlichen Thema in Verbindung zu bringen. Wir sehen in diesem Bibelwort eine Herausforderung. Denn wer lässt sich heutzutage schon noch gerne sagen, was für ihn, oder auch für sie, gut ist? Da steckt ja schon eine gewisse Zumutung drin. Und "nur", weil etwas in der Bibel steht, ist es ja in diesen Zeiten keine "unhinterfragbare" Autorität.
Also tatsächlich finden wir, dass zurzeit alle Menschen, speziell aber nicht zuletzt Männer, durch herausfordernde Zeiten gehen. Es gab Zeiten, in denen es eigentlich für Männer automatisch klar war, wofür sie stehen und wie sie zu handeln haben und nach welchen Normen sie sich auszurichten haben - aber diese Zeiten sind vorbei. Ich würde auch sagen, die sind Gott sei Dank vorbei. Dafür gibt es jetzt natürlich ein ganz diffuses Anforderungsprofil, mit dem Männer irgendwie umgehen müssen. Sie haben also einerseits gelernt, was es heißt, männlich oder ein Mann zu sein. Auf der anderen Seite leben wir heutzutage in einer Welt, die sehr vielfältige und auch zueinander in Widerspruch stehende Anforderungen an Männer stellt.
"Das alte Ideal, der starke autonome Mann, der auch legitimiert ist, anderen zu sagen, wo es langgeht – das existiert zum Teil noch."
Das alte Ideal, der starke autonome Mann, der auch legitimiert ist, anderen zu sagen, wo es langgeht – das existiert zum Teil noch. Gleichzeitig sind aber sogenannte Soft Skills gefragt. Ich habe das Gefühl, dass Männer in einem hohen Widerspruch zwischen sehr unterschiedlichen Anforderungen stehen und darauf wissen wir weder eine Antwort, noch haben wir dafür eine einfache Lösung. Wir wollen Männern aber Lust machen, darüber nachzudenken, wofür sie stehen wollen, wofür sie sich einsetzen wollen. In Zeiten, die ja, wie wir alle wissen, sehr unübersichtlich und sehr krisenhaft geworden sind, haben wir den Eindruck: Männer müssen sich dieser Frage stellen und sie müssen für sich und vielleicht auch gemeinsam mit anderen, nach Wegen und Antworten darauf suchen, und dann dafür entsprechend eintreten.
Medien, Institutionen und Politiker scheinen zu wissen, was gut für uns Menschen und Bürger ist. Es gibt unzählige Appelle, die aber durchaus widersprüchlich wirken. Wie wichtig ist es gerade jetzt, für sich selbst zu denken, sich eine eigene Meinung zu bilden - damit man nicht Gefahr läuft, manipuliert zu werden?
Treichel: Das ist hochwichtig und gleichzeitig natürlich enorm komplex geworden, weil wir so viele Stimmen wie noch nie hören, die auf uns einreden. Wir müssen uns ständig entscheiden: Welchen davon wollen wir zuhören? Welchen vertrauen wir? Wo informiere ich mich, mit wem bin ich im Gespräch oder mit wem suche ich die Auseinandersetzung? Wie führe ich die? Also diese ganzen politischen Debatten gehen ja auch bis tief hinein in Freundschaften, Freundeskreise und Familien. Natürlich stellt sich dann einerseits die Frage: Wofür stehst du? Andererseits ist es wichtig zu wissen, wie kommunizierst du deinen Standpunkt und wie gehst du mit Konflikten um?
"Der Schweizer Männerforscher und Männertherapeut Markus Theunert sagt immer, wir haben die Aufgabe, den Männern liebevoll vom Sockel zu helfen."
Wir wollen Männer ermutigen, dazu einen Zugang zu finden. Dafür wollen wir von guten Beispielen erzählen, wie das gelingen kann. Wenn ich die Predigten lese oder höre, die in den vergangenen Jahren für unseren Männerpredigtpreis eingereicht worden sind, dann versuche ich - jenseits von Klischees - ich nenne es mal eine männersolidarische Perspektive zu finden. Der Schweizer Männerforscher und Männertherapeut Markus Theunert sagt, wir haben die Aufgabe, den Männern liebevoll vom Sockel zu helfen. Ich finde das eine sehr schöne Formulierung. Wir Männer müssen lernen, dass wir nicht alleine auf der Welt sind und dass wir nicht die Bestimmer sind.
Es geht nicht darum, dass wir uns permanent unsere Defizite vor Augen führen. Es hilft auch nichts, dass man uns auf eine etwas lieblose Art darauf hinweist. Es geht vielmehr darum, positive Geschichten zu erzählen, aus einer liebevollen Perspektive heraus. Wir Männer sollten nicht nur auf unsere Fehler und Grenzen schauen, sondern auch auf unsere Möglichkeiten und unsere Entwicklungschancen. Das ist, glaube ich, der Punkt.
Wer oder was kann uns dabei helfen herauszufinden, was gut ist? Welche Rolle spielt herbei die Kirche, der Glaube?
Treichel: Wir von der evangelischen Männerarbeit sind natürlich davon überzeugt, dass wir nicht zuletzt auch in dem, was uns an biblischen Männerfiguren begegnet, ein inspirierendes Gegenüber finden. Die Bibel berichtet über Männer, im Alten und im Neuen Testament. Natürlich ist deren Lebenssituation damals eine völlig andere als heutzutage. Aber die Fragen, um die sie ringen, die Antworten, die sie suchen, die Auseinandersetzungen, in die sie verwickelt sind, die Weggabelungen, an denen sie stehen - die sind, wenn man es existenziell versteht, nicht sehr viel anders als die Fragen, die uns Männer heute umtreiben, nämlich: Wohin führt mich mein Weg? Mit wem und wie will ich mein Leben leben? Nach welchen Maßstäben richte ich mich aus?
Da sind Figuren wie Abraham beispielsweise, wie Mose, wie Jakob. Ich finde immer besonders beeindruckend das Leben von Josef als Vater Jesu. Wie er seine Aufgabe annimmt, wie er auf Träume hört, wie er diese kleine Familie durch schwierige Zeiten bringt. In den biblischen Geschichten finden wir viele Anregungen. Und wir wünschen uns, dass die Männer über diese Geschichten nachdenken und diese mit ihrem Leben vergleichen. Wir wollen dazu motivieren, alles Theologische mal aus Männerperspektive zu sehen.
Es gibt dringende politische und gesellschaftliche Fragen, die dazu herausfordern, Antworten zu finden. Wie kann der Predigtpreis 2024 und die eingereichten Predigten, anderen Männern helfen, einen eigenen Standpunkt herauszuarbeiten?
Treichel: Es gibt verschiedene Zugänge und Wege. So findet beispielsweise jeden dritten Sonntag im Oktober ein Männersonntag statt, an dem wir erleben, dass an sehr vielen verschiedenen Orten in der evangelischen Kirche in Deutschland über das Thema zum Predigtpreis gesprochen, gepredigt wird. Das ist an sich schon einmal ein gutes Zeichen. Man kann natürlich immer einwenden: ‚Es reden doch ständig immer Männer in der Kirche und es geht doch auch ständig in dieser ganzen Welt immer nur sie.‘ Und trotzdem erlauben wir uns an diesem Sonntag mal einen männerspezifischen und vielleicht wirklich einen kritischen und trotzdem liebevoll solidarischen und klischeefreien Blick auf Männer, der uns ja auch durch bestimmte männliche Figuren, die wir jeden Tag in den Medien sehen, vielleicht einfach verstellt ist.
Am 20. Oktober ist Männersonntag, da gibt es die Gelegenheit, zu diesem Jahresthema in vielen verschiedenen Gemeinden Predigten zu hören. An manchen Stellen bereiten auch die Männerkreise den Gottesdienst vor. Auf unserer Webseite haben wir auch ein Werkheft zum Predigtpreis und Männersonntag. Darin ist eine Predigt als Arbeitshilfe abgedruckt. Wir wünschen uns, dass dieses Thema eine gewisse Breitenwirkung entfaltet, dass es in den einzelnen Männergruppen weiter besprochen wird.
Wir hier in Westfalen, wo ich lebe und arbeite, organisieren zum Männersonntag ein Seminar, in dem wir für unsere Ehrenamtlichen das Jahresthema aufbereiten und ihnen Angebote an die Hand geben, wie man an Männergruppen-Abenden darüber ins Gespräch kommt. Natürlich veröffentlichen wir auch die Predigten, die den Männerpredigtpreis gewinnen. Aber das Wichtigste ist, dass wir mit diesem Thema an die Öffentlichkeit gehen und die Menschen neugierig machen. Es ist eine Art der Öffentlichkeitsarbeit nach innen wie nach außen.
Haben viele Männer Ihrer Meinung nach ein Identitätsproblem?
Treichel: Also, was ich feststelle, ist, dass es wirklich für Männer eine Schwierigkeit ist, sich miteinander zu solidarisieren. Ja, und für legitime Männerinteressen auch einzustehen - als ob sie sich gar nicht trauen. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass reflektierte Männer natürlich wissen, es ist immer noch "A man‘s world", eine Welt, in der Männer das Sagen haben, und an vielen Stellen unglaublich privilegiert sind – aber in manchen Situationen eben nicht. Wir brauchen eine Form, eine Sprache, die einerseits demütig genug ist, gleichzeitig aber auch selbstbewusst genug ist zu sagen, es gibt auch Männerinteressen, für die wir einstehen.
Denken wir an die Frage der Freistellung für Väter nach der Geburt eines Kindes. Für dieses Recht sollten wir einstehen, dass ein Vater nach der Geburt seines Kindes für zwei Wochen unter Fortzahlung der Bezüge von seiner Arbeit freigestellt werden soll, damit er sich in den ersten 14 Tagen um das Kind kümmern kann, mit der Mutter zusammen. Politisch kommen wir in Deutschland interessanterweise da nicht weiter, obwohl es eine EU-Norm ist.
"Leider treten prominente Väter aus der Politik wie Friedrich Merz oder der vierfache Vater Robert Habeck nicht für das Recht auf Freistellung nach der Geburt ein – es scheint extrem unsexy zu sein, ..."
Leider treten prominente Väter aus der Politik wie Friedrich Merz oder der vierfache Vater Robert Habeck nicht für das Recht ein – es scheint extrem unsexy zu sein, sich als Mann für dieses Thema einzusetzen. Es gibt aber auch keine Demonstration vor dem Familienministerium, wo sich Männer zusammenschließen, und sagen: Wir gehen da jetzt mal hin und wir bleiben hier so lange stehen, bis Frau Paus diese Väterfreistellung auf den Weg gebracht hat. Das ist das Dilemma, in dem die gleichstellungsorientierte Männerpolitik steht. Wir tun uns als Männer extrem schwer, ein Stück Solidarität ssunter uns zu erlangen, um den politisch legitimem Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Inhaltliche Voraussetzungen für die Teilnahme bis zum 31.10. sind: Die Predigten müssen vom oben genannten Bibelzitat aus Micha 6,8 sowie den Lebenskontexten von Männern ausgehen. Was erwarten Sie von Einsendungen? Haben Sie da eine Vorstellung?
Treichel: Ich erwarte, dass es natürlich einerseits eine Auseinandersetzung mit diesem Bibelvers gibt. Von dem steht hier ja nur der erste Teil. Das geht ja weiter, nämlich Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. Ich wünsche mir, dass dieses Thema anhand konkreter Männerbiographien lebendig gemacht und ein liebevoll kritischer Blick gefunden wird.
Ich erinnere mich an eine Predigt, die vor einigen Jahren mal den Predigtpreis gewonnen hat. Da ging es um einen sogenannten Planespotter, einen Mann, der häufig am Frankfurter Flughafen stand und die Flugzeuge bei ihrem Ab- und Anflug beobachtet hat. Es war sehr schön beschrieben, was diesen Mann beschäftigt, warum er das macht. Es war eine freundlich-solidarische Grundhaltung herauszuhören. Ich finde wichtig, dass wir nicht nur klischeehaft beschreiben, was wir Männern sowieso zuschreiben, und wünsche mir, dass die eingesendeten Predigten einen Blick haben für die Vielfalt männlicher Lebensformen.
Info zum Männerpredigtpreis
Der "Predigtpreis Männer" (https://maennerarbeit-ekd.de/pp2024/) der EKD-Männerarbeit wird jedes Jahr ausgeschrieben. Bis zum 31.10.2024 können interessierte Männer und Frauen, die haupt-, neben- oder ehrenamtlich im Verkündigungsdienst tätig sind, Predigten in Text, Video oder Ton einzureichen. Inhaltliche Voraussetzungen sind: Die Predigten müssen vom Bibelzitat aus Micha 6,8 sowie den Lebenskontexten von Männern ausgehen. Der Preis ist mit 400,-, 300,- und 200,- € dotiert.