Aline Seidel geht zügig zu einer Info-Tafel und klappt den braunen Deckel hoch. Es regnet in Strömen, aber die Natur brauche es ja, seufzt die Pfarrerin. Sie deutet auf den Baum hinter dem Schild: eine Zypresse. Sie wird mehrmals in der Bibel erwähnt. Dort heißt es an einer Stelle, dass das Edelholz für den Bau eines "Prachtschiffes" verwendet wird.
Etwa 110 Pflanzenarten finden in der Bibel Erwähnung. Einige davon wachsen auch im Botanischen Garten in Marburg. Seit 2011 gibt es dort einen Bibelpflanzenpfad. Er schlängelt sich etwas versteckt durch das 29 Hektar große, mit Bäumen, Sträuchern, Kräutern und Blumen bewachsene Areal.
Wenige Meter nach der Zypresse kommt das nächste Schild: Feige und Eiche werden mit ihren botanischen Namen, der griechischen und hebräischen Bezeichnung sowie der Bibelstelle beschrieben. Es sei faszinierend, dass die Bäume schon zu biblischer Zeit wuchsen, sagt Alwine Schulze. Die beiden jungen Pfarrerinnen promovieren zurzeit an der Marburger Universität in Evangelischer Theologie und beschäftigen sich mit der Klimakrise.
Botanische Gärten sind Kunstgebilde, sie bilden auch die Pflanzenwelt ferner Kontinente ab. Der Weg führt vorbei an einem Bereich "Rocky Mountains", an den Pflanzen Neuseelands und des Himalajas. Auch die Libanonzeder, die an vielen Stellen in der Bibel auftaucht, würde nicht auf den Marburger Lahnbergen wachsen. "Hier kann man sie mal sehen."
Mit der Bibel in der Hand
Ein Stück entfernt steht ein Granatapfelbäumchen. Das könnte die Frucht gewesen sein, die Eva in der Schöpfungsgeschichte vom Baum nahm, erzählt Alwine Schulze.
Vor allem in der Kreuzigungsszene kämen viele Pflanzen vor. Die Dornenkrone, die Jesus trug: "Man vermutet, dass es Brombeeren waren." Am Kreuz wurde Jesus Wein vermischt mit "Galle" gereicht - das könnte Schierling gewesen sein, erklärt Aline Seidel. Die Giftpflanze wirkt in geringer Dosierung schmerzlindernd und betäubend. Der Gefleckte Schierling wächst auch im Botanischen Garten.
Initiator des Lehrpfades ist Andreas Schoenwandt. "Der Hintergedanke war, dass es nicht schaden könnte, wenn die Leute die Bibel in die Hand nehmen und selbst nachschauen", sagt er schmunzelnd. Schoenwandt hat sich lange mit dem Thema beschäftigt, das Buch eines israelischen Pflanzenbiologen gelesen und selbst ein handgeschriebenes Büchlein mit biblischen Pflanzenarten angelegt. Mit dieser Liste sei er zu den Gartenbauingenieurinnen des Botanischen Gartens gegangen: "Wie können wir das machen?"
In diesem Frühjahr haben die in die Jahre gekommenen Info-Tafeln eine kleine Renovierung erhalten. Leider, berichten die beiden Pfarrerinnen, habe es auch antisemitische Vorfälle gegeben. Auf einigen Tafeln seien die hebräischen Übersetzungen zerkratzt worden.
Dass den Pflanzen in der Bibel eine so große Rolle zukommt, bedeute, "dass eine Fokussierung auf den Menschen nicht in der Bibel begründet ist", erklären die Theologinnen. Es gehe vielmehr um das "Bebauen und Bewahren" (1. Mose 2,15): "Wir wurden in den Garten gesetzt und stehen nicht darüber."