Ein Mann kommt nach Hause, tötet seine Frau, informiert die Polizei und lässt sich widerstandslos verhaften. Für die lokalen Medien ein Ereignis, überregional bloß einen Hinweis wert, aber der perfekte Stoff für eine Reportage über die Geschichte hinter der Meldung: Warum hat Anwalt Peter Klettmann aus heiterem Himmel und nach über zwanzig harmonischen Ehejahren die Mutter seiner Kinder erstochen? Die Antwort auf diese Frage ist ein Missverständnis, das sich Mitte der Neunziger bei einer Abifeier zugetragen und eine Kettenreaktion ausgelöst hat, in deren Verlauf gleich mehrere Familien zerstört werden. Der 25 Jahre später begangene Mord bildet keineswegs den Schlusspunkt der Ereigniskette.
"Gestern waren wir noch Kinder" (Erstausstrahlung war 2022) dauert über fünf Stunden und ist dennoch keine Minute zu lang: weil Produzentin Natalie Scharf ein Drehbuch geschrieben hat, das schon allein durch seine Tiefe imponiert. Mutig ist vor allem die Entscheidung, die Bürde der Hauptfigur einer Darstellerin mit wenig Erfahrung zu übertragen, selbst wenn die dank ihrer Lifestyle-Videos bei einem jungen Publikum als Influencerin bekannte Julia Beautx regelmäßig in der gleichfalls maßgeblich von Scharf geprägten ZDF-Sonntagsreihe "Frühling" mitwirkt. Mit ihrer formidablen Verkörperung der 18jährigen Tochter, die nach der Verhaftung ihres Vaters (Torben Liebrecht) um das Sorgerecht für ihre kleinen Geschwister kämpft, spielt sie sich in die erste Reihe.
Natürlich bricht für Vivi mehr als nur eine Welt zusammen: Am Morgen hat die Familie noch Geburtstag gefeiert, Anna Klettmann ist an diesem Tag 44 Jahre alt geworden. Und dann ereignet sich die Tat, die Vivis Leben fortan teilen wird: in die glücklichen Jahre davor und die Zeit danach. Zweite Schlüsselfigur ist ein Polizist: Tim Münzinger war als erster am Tatort und kümmert sich fortan rührend um Vivi, deren Geschwister in Pflegefamilien untergebracht werden.
Julius Nitschkoff hat oft junge Kriminelle verkörpern müssen, aber stets angedeutet, dass viel mehr in ihm steckt. Wäre da nicht Klettmanns düstere Einleitung aus dem Off, könnte die erste Begegnung der beiden jungen Leute auch der Auftakt zu einer unbeschwerten jugendlichen Romanze sein. Das Geständnis, das sich als Brief an Vivi entpuppt, legt sich jedoch wie eine dunkle Wolke über die heitere Szenerie: "Kein Geheimnis lässt sich für immer verbergen. Je schmutziger, umso hartnäckiger strebt es zum Licht. Geheimnisse sind wie Ungeziefer."
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Unausgesprochene Botschaft der siebenteiligen Serie ist die Erkenntnis, dass jemand fünf Menschen auf dem Gewissen haben kann und trotzdem kein schlechter Mensch sein muss. Ulrich Tukur, der Peters Vater spielt, formuliert es im ZDF-Pressematerial so: "Dies ist die Geschichte einer schweren seelischen Verletzung, die sich über drei Generation hinzieht und am Ende zur Katastrophe führt. Der Film ist ein Lehrstück über Sprachlosigkeit und die Unfähigkeit, sie zu überwinden."
Das bringt es auf den Punkt: Letztlich handelt "Gestern waren wir noch Kinder" von Verbrechen, für die noch die Enkelkinder büßen müssen. Im Grunde erzählt Scharf zwei Geschichten, wenngleich mit identischem Personal: hier die Gegenwart, dort die Jugend der Beteiligten Mitte der Neunziger. Entscheidend für die gleichberechtigte Qualität der beiden Zeitebenen sind die Leistungen auch der jugendlichen Mitwirkenden, allen voran Milena Tscharntke als Schulschwarm sowie Damian Hardung und Rieke Seja als junge Alter Egos von Peter und Anna.
Regie führte Nina Wolfrum, die zuletzt mehrere Episoden für "Nord bei Nordwest" inszeniert hat. Ihre Umsetzung ist allerdings nicht annähernd so ausgeklügelt wie das Drehbuch, das weite Teile der Gegenwartshandlung bis hin zur grimmigen Schlusspointe nochmals erzählt, aber nun aus anderem Blickwinkel. Die Bildgestaltung entspricht zwar dem gehobenen Fernsehfilmdurchschnitt, aber die Verknüpfung der Zeitebenen ist nur selten so elegant gelöst wie in der Szene, als ein Pfarrer zwei Trauerreden hält: erst damals für Peters auf tragische Weise verstorbene Schwester, dann heute für Anna.
Wolfrums Arbeit mit dem Ensemble ist allerdings vorzüglich, zumal die Serie durch diverse Besetzungsüberraschungen erfreut; besonders eindrucksvoll ist ein Gastauftritt von Stephan Grossmann, der einen querschnittsgelähmten Mann ausschließlich mit den Augen spielt. Reizvoll ist auch das akustische Konzept: Die Atmosphäre wird geprägt von einer sorgfältigen Songauswahl, bei der die Musik von Depeche Mode aus gegebenen Anlass eine besondere Rolle spielt. 3sat zeigt heute die Folgen eins bis vier, der Rest folgt morgen ab 22.30 Uhr.