Darf ein Sexualverbrecher bei Olympia antreten?

Blogbild Evangelisch kontrovers mit van de Velde
Marcus Brandt/dpa/evangelisch.de (M)
Kolumne: Evangelisch kontrovers
Darf ein Sexualverbrecher bei Olympia antreten?
Mit dem niederländischen Beachvolleyballer Steven van de Velde nimmt ein Sportler an den olympischen Spielen teil, der wegen eines Sexualverbrechens an einem Kind verurteilt wurde. Wie ist der Fall zu beurteilen? Was folgt hier daraus, dass im christlichen Glauben die Vergebung eine so bedeutende Rolle spielt?

Bei den olympischen Spielen in Paris wurde ein niederländischer Athlet ausgebuht, schon bevor der Wettkampf losging. Allerdings erntete er letzten Sonntag auch demonstrativen Applaus. Hinweis: In diesem Text geht es um sexuelle Verbrechen gegen ein Kind. Der niederländische Beachvolleyballer Steven van de Velde wurde vor acht Jahren wegen Vergewaltigung eines zwölf-jährigen Mädchens verurteilt. Er hat dreizehn Monate hinter Gittern verbracht und sich in therapeutische Behandlung begeben. Er bereut das Verbrechen, und verschiedene Experten meinen einhellig, dass von ihm keine Gefahr ausgeht. Dennoch ist der Protest gegen van de Velde verständlich.

Drei Organisationen, die sich für Opfer sexueller Übergriffe im Sport einsetzen, meinen, er müsse von den Spielen ausgeschlossen werden. Kommentare in deutschen Zeitungen zeigen sich kritisch, können sich aber oft nicht zu einer Stellungnahme durchringen. In England, der Heimat des Opfers, herrscht teilweise Entsetzen. In niederländischen Zeitungen wiederum heißt es, besonders "ausländische" Medien nähmen den Sportler unter Feuer, obwohl er seine reguläre Strafe verbüßt habe und rehabilitiert ist. Anscheinend ist diese Position nicht nur auf den Patriotismus der Holländer zurückzuführen – man bescheinigt van de Velde, vorbildlich mit dem schwarzen Flecken in seiner Biographie umzugehen. Das Thema ist auch aus Sicht der evangelischen Ethik interessant, spielt doch die Vergebung von Schuld, die Rechtfertigung des Sünders, eine so große Rolle im evangelischen Glauben. Andererseits ist ein Sexualverbrechen gegen ein Kind ein sehr gravierendes Vergehen. Wie soll man also im Fall van de Velde urteilen?

Das Verbrechen

Vor zehn Jahren verlangte ein zwölfjähriges Mädchen in Großbritannien die "Pille danach". Das Krankenhaus verständigte die Behörden und es stellte sich heraus, dass Steven van de Velde, damals neunzehn, dreimal Geschlechtsverkehr mit dem Mädchen hatte. Er kannte ihr Alter, und sie hatten Alkohol getrunken. Dann riet er ihr, nach der Pille zu fragen. Ursprünglich hatten die beiden einander online kennengelernt, wo er das Mädchen zunächst noch für eine Sechzehnjährige hielt. Doch in Großbritannien ist die Tat juristisch eine Vergewaltigung, weil das Opfer unter vierzehn ist, und so wird der Sportler dort zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.

Nach einem Jahr Haft in England wird der Straftäter an sein Heimatland, die Niederlande, ausgeliefert. Dort ist die Rechtslage allerdings anders: Das Verbrechen wird dort nicht als Vergewaltigung eingeschätzt. Für die niederländische Rechtspraxis ist wichtig: Das Mädchen hat anscheinend wiederholt nicht nein gesagt, ist nicht weggelaufen und hat sich nicht gewehrt, und der Mann hat sie nicht genötigt. Natürlich sprechen auch die Niederländer hier nicht von regulärem, einvernehmlichem Geschlechtsverkehr. Doch Vergewaltigung wird dort grob gesprochen als Sexualkontakt gegen den Willen der Frau definiert. Weil das Opfer das Alter von zwölf Jahren erreicht hat und dem Anschein nach freiwillig handelte, wird der Mann nicht wegen Vergewaltigung, sondern wegen Unzucht verurteilt. Van de Velde sitzt also einen weiteren Monat in einem holländischen Gefängnis ein und kommt dann frei. Vermutlich konnte er in den Niederlanden keine wesentlich härtere Strafe erhalten, selbst wenn ein Richter das so gewollt hätte.

Zwei verschiedene Perspektiven

Zwar reden wir umgangssprachlich im weiteren Sinne von Vergewaltigung. Aber ein BBC-Reporter fragte etwa das italienische Team, das gegen van de Velde gewonnen hat: "Wie ist es, gegen einen Kindervergewaltiger zu spielen?" Damit spricht sich der Reporter für das britische Rechtswesen und gegen das niederländische aus – vielleicht, ohne den Unterschied zu kennen. Niederländische Zeitungen weisen dagegen darauf hin, dass in den Niederlanden das Einverständnis des Opfers durchaus zu bedenken sei. 

Sühne und Resozialisierung

Im Zentrum der Kontroverse liegt also auch ein Unterschied darin, wie zwei Länder mit ihren kulturellen Eigenarten und ihrer jeweiligen Rechtskultur eine Straftat bewerten. Statt vier Jahren muss der Verbrecher für gut ein Jahr hinter Gitter. Dass van de Velde dann mit der Olympiateilnahme eine besondere Ehre empfängt und als Vorbild gelten darf, ist aus britischer Sicht schwer erträglich.

Im Rechtsempfinden der Bevölkerung dürfte zudem der Gedanke der Sühne eine wichtige Rolle spielen: Der Täter muss erleiden, was seine Tat wert ist, denn zunächst steht ihm seine Schuld als eine Realität entgegen. Gerade bei einem so sensiblen Vergehen wie einem Sexualverbrechen gegen ein junges Mädchen dürfte dieser Instinkt eine wichtige Rolle spielen. Das finde ich auch ethisch legitim. Wenn man nun entweder sagt, Sex eines Erwachsenen mit einer Zwölfjährigen ist immer eine Vergewaltigung, unabhängig vom Anschein des Einverständnisses, oder wenn man ihn andererseits weniger strikt als Unzucht beschreibt, weil die Tat anscheinend nicht gegen ihren Willen geschah, dann gibt es entweder mehr oder weniger zu sühnen.

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Beim Strafzweck spielt außerdem die Rehabilitation eine wesentliche Rolle: Die Strafe muss der Art sein, dass sie als "Denkzettel" eine Besserung bewirkt. Das kann einen Unterschied machen: Unter Umständen könnten Rehabilitation und Resozialisierung weniger Zeit in Anspruch nehmen, als es zur Sühne bedürfte. Der Aspekt der Rehabilitation ist im niederländischen Rechtswesen durchaus einflussreich. Hier könnten also Niederländer zugunsten von van de Velde sagen: Er ist rehabilitiert, und die Verpflichtung, die er gegenüber dem Opfer und der Gesellschaft hat aufgrund des Verbrechens, ist abgegolten. Er ist kein Mensch zweiter Klasse – weshalb sollte er nicht an den Spielen teilnehmen, wenn er seine Strafe abgeleistet hat, Reue zeigt und keine Gefahr von ihm ausgeht?

Lebenslänglich ausgeschlossen?

Dass er geläutert bei den Spielen auftritt, würden van de Velde viele nicht zugestehen – sogar ganz unabhängig vom Strafmaß. Selbst, wenn van de Velde vier Jahre oder mehr im Gefängnis verbüßt hätte, wollen sie ihn nicht bei Olympia sehen. So äußert sich eine britische Anwältin, eine Expertin im Bereich Gleichberechtigung und Sexualstrafrecht: "Kein Pädophiler oder Kindsvergewaltiger kann ein Land bei den olympischen Spielen vertreten. Zu sehen, wie ein Vergewaltiger Applaus erhält, als ob gar nichts geschehen wäre, ist ein Schlag ins Gesicht für die Überlebenden".

Diese Juristin steuert eine wichtige Frage zur Diskussion bei: Wie wirkt die öffentliche Anerkennung des umstrittenen Sportlers auf das Opfer? Doch ihrer Meinung, dass jemand wie van de Velde niemals bei den Spielen antreten dürfte, ganz unabhängig davon, was für eine Strafe er verbüßt hat, kann ich nicht zustimmen. Nach dieser Logik müsste man vielleicht auch das Strafrecht so ändern, dass er sich nicht mehr als Politiker zur Wahl stellen dürfte. Zwar kennt etwa das deutsche Strafrecht die zeitweilige Aberkennung bestimmter "bürgerlicher Ehrenrechte": Nach einer schweren politischen Straftat (also nicht etwa nach einem unpolitischen Mord) darf ein Verbrecher für bis zu fünf Jahre nicht bei einer politischen Wahl als Kandidat antreten oder auch bis zu fünf Jahre lang nicht mehr selbst wählen. Doch die britische Juristin fordert ja keinen begrenzten Ausschluss, sondern eine kategorische Sperre.

Angenommen, van de Veldes Verurteilung zu vier Jahren Haft war im Strafmaß gut begründet: Wenn er denn vier Jahre im Gefängnis verbracht hätte, dann müsste man ihm meiner Meinung nach die Teilnahme an der Olympiade zugestehen. Wohlgemerkt gilt das unter vier Bedingungen: Sportlich qualifiziert er sich offiziell für die Spiele; er hat seine legale und angemessene Strafe verbüßt; er bereut seine Straftat; und es besteht praktisch kein Risiko, dass er wieder übergriffig wird.

Eine zweite Chance

Jeder Mensch verdient eine zweite Chance. Auch einen Kindesvergewaltiger kann man nicht kategorisch von dem Prinzip ausschließen: besondere Ehren für besondere Leistungen – wenn er denn seine gerechte Strafe verbüßt hat. Dass der Tod und die Auferstehung Jesu Christi allen Menschen zugute kommen, auch den schlimmsten Verbrechern, bedeutet eine besondere Würde des Menschen, die durch keine Tat ausgelöscht wird. Die Todesstrafe etwa ist damit nicht vereinbar. Andere Rechtsstrafen bleiben dem Straftäter natürlich nicht erspart. Sie müssen aber seiner Schuld angemessen sein und die Aussicht auf Resozialisierung bieten. Wer in diesem Sinne wieder ein reguläres Mitglied der Gesellschaft geworden ist, der kann auch wieder für besondere Leistungen besondere Ehren empfangen. 

Was ist dem Opfer zuzumuten?

Damit bleiben noch zwei Fragen: Ist es dem Opfer überhaupt zuzumuten, dem Täter bei den olympischen Spielen in Aktion zu sehen, wenn er eine gerechte Strafe verbüßt hat? Und was tun, wenn Briten und Niederländer (vereinfacht gesagt) darüber streiten, ob die gerechte Strafe ein Jahr oder vier beträgt? Haben hier vielleicht die Niederländer recht, und man müsste die Teilnahme van de Veldes respektieren?

Allgemein gesagt ist es dem Opfer zuzumuten, den Täter bei den olympischen Spielen zu sehen, denn wenn die Strafe, die er verbüßt hat, gerecht ist, heißt das, dem Opfer Gerechtigkeit zuzumuten. Bedingung ist, dass der Täter eine gerechte Strafe verbüßt hat. Natürlich wird es für das Opfer schmerzhaft sein, den Täter auf dem Bildschirm zu sehen. Doch die Annahme der britischen Juristin ist unwahrscheinlich: Dass der Vergewaltiger "Applaus erhält, als ob gar nichts geschehen wäre". Dass ein bestrafter Vergewaltiger in der Öffentlichkeit behandelt wird wie ein Unbescholtener, ist geradezu ausgeschlossen. Sein Ruf wird ihm vorauseilen. Besonders klar ist das bei van de Velde, der nur dreizehn Monate inhaftiert war. Dass seine Auftritte zum Spießrutenlauf werden, war vorhersehbar. Im Resultat dürfte die Olympiade für ihn kein positives, ehrenhaftes Erlebnis sein.

Dass er andererseits Applaus erhält von niederländischen Fans, ist eine Trotzreaktion: Manche Niederländer fühlen sich von der Presse missverstanden. Aus ihrer Sicht wird einer der Ihren wie ein Vergewaltiger behandelt, obwohl er laut niederländischem Rechtssystem kein Vergewaltiger ist. 

Fehlentscheidung

Insgesamt finde ich, das niederländische olympische Komitee hätte van de Velde nicht zu den Spielen schicken sollen. Denn hier zählt die Perspektive des Opfers einer sexuellen Straftat besonders: Die gerechte Strafe hätte aus britischer Sicht, und vermutlich auch aus Sicht des Opfers, in vier Jahren Haft bestanden und nicht aus nur einem. Damit wird die Schwere der Tat herabgespielt, zumindest im subjektiven Empfinden des Opfers. Hätte der Täter vier Jahre im Gefängnis verbracht, wäre die Situation anders. Außerdem ist seine Olympiateilnahme in Großbritannien missverständlich: Die britische Presse erklärt die rechtlichen Differenzen zwischen England und Holland teils nicht ausreichend, und in Großbritannien entsteht der Eindruck, die Kindesvergewaltigung wird bagatellisiert. Vergewaltigungsopfer gewinnen so den Eindruck, sie machen das Unrecht besser nicht bekannt, da man mit den Tätern zu milde umgeht.