Es ist ein Spiel, doch es wirkt nicht so: Ein Mann sucht im Wald nach seinem Sohn. Das Kind verbirgt sich unter einer Brücke, aber seinen Vater erinnert das Versteckspiel an eine alte Wunde, weshalb wie aus dem Nichts ein zweiter Junge auftaucht: Der achtjährige Ole ist vor 15 Jahren spurlos verschwunden. Damals hat David Wallat, Kommissar beim LKA Hannover, einen Kindermörder verhaftet.
Joseph Maria Hagenow, bis dahin völlig unbescholten, hatte einen Jungen lebendig in einer Kiste im Wald verscharrt und verdursten lassen. Wallat war überzeugt, dass der Mann auch Ole auf dem Gewissen hat, aber das ließ sich nicht beweisen; die Leiche des Kindes ist nie gefunden worden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Als Hagenow aus dem Gefängnis entlassen wird, bekommt Wallat den Auftrag, ihn zu observieren. Der Kommissar soll den Mann auf frischer Tat ertappen, damit er für immer hinter Gittern verschwindet. Eines Nachts nutzt Hagenow einen Moment der Unaufmerksamkeit und entwischt der Überwachung. Am nächsten Morgen ist der kleine Max verschwunden.
Das ist zwar purer Thrillerstoff, aber Regisseur Stefan Bühling verzichtet bei der Umsetzung von Arndt Stüwes Drehbuch zunächst auf die üblichen Spannungselemente, denn erst mal passiert nicht viel. Das ist trotzdem fesselnd, weil Bühling die beiden Hauptrollen vortrefflich besetzt hat: Peter Kurth spielt den Kommissar, Tobias Moretti den Mörder. Der Reiz dieser Konstellation liegt nicht zuletzt im potenziellen Rollentausch: Beide Schauspieler könnten auch die andere Figur verkörpern. Der von Moretti durchaus sympathisch angelegte Hagenow hat wie jeder Mensch das Recht auf eine zweite Chance. Wallat sieht das anders; für ihn gehören Männer wie Hagenow für immer weggesperrt.
Ähnlich interessant wie der Entwurf der beiden Antipoden ist das Personal in der zweiten Reihe: Vor 15 Jahren hat Wallats Partner Thuner (Simon Schwarz) verhindert, dass der Kollege illegale Mittel anwendet, um Hagenow dazu zu bringen, Oles Versteck zu verraten. Nun ist Thuner erneut dabei, aber diesmal hat Wallat Verstärkung: Die junge Kommissarin Kampe (Tinka Fürst) tickt ähnlich wie der Teamchef.
Die beiden entführen Hagenow in eine einsame Waldhütte, um ihn zu einem Geständnis zu zwingen. Eine clevere Drehbuchidee verstärkt die Empörung über die Folterszenen noch: Stüwe, der unter anderem die Komödien "Echte Bauern singen besser" (2019) und "Heiraten ist nichts für Feiglinge" (2016) geschrieben hat, präsentiert gleich zu Beginn einen weiteren Verdächtigen (Jan Krauter). Hagenow wiederum legt selbst unter der Folter kein Geständnis ab; womöglich, weil es nichts zu gestehen gibt.
Dass die Verantwortlichen das Krimidrama "Im Abgrund" und nicht "Am Abgrund" genannt haben (TV-Premiere war 2020), hat sicher auch damit zu tun, dass es bereits Dutzende Filme gibt, die so heißen; aber der Titel verdeutlicht eben auch, dass Wallat und Kampe eine rote Linie überschritten haben. "Wir sind anders als der", beschwört Max’ Mutter den Lynchmob, der sich vor dem Pfarrhaus zusammengerottet hat. "Es gibt Grenzen, die machen uns zu Menschen", sagt Thuner zu Wallat.
Diesen Diskurs haben schon Jochen Bitzer (Buch) und Stephan Wagner (Regie) in ihrem Grimme-preisgekrönten Film "Der Fall Jakob von Metzler" (2012) behandelt: Darf ein guter Zweck alle Mittel heiligen? Interessant auch, dass Stüwe gegen das Klischee eine attraktive junge Frau bis zum Äußersten gehen lässt. Tatsächlich hat Kampe bei der Wahl ihrer Mittel noch weniger Skrupel als Wallat; schade, dass Tinka Fürst, zuletzt als Hauptdarstellerin der im Juni ausgestrahlten Tragikomödie "Now or never" (ARD) noch eine echte Entdeckung, bei ihren Dialogen nicht durchgängig überzeugt.
Das ändert allerdings nichts an der Intensität des Films, zumal Bühlings Inszenierung ganz auf die Kraft der Geschichte vertraut. Der Tonfall ist fast sachlich; es sind die unheilvollen Waldaufnahmen (Kamera: Marco Uggiano), die großes Unbehagen verbreiten. Anfangs, als sich Hagenow und Wallat gegenseitig belauern, lebt der Film in erster Linie von der Gewissheit, dass sich irgendwas ereignen wird; offen ist nur, was und wann.
Später geht es vor allem um die Frage, ob Hagenow unschuldig oder doch ein Monster mit beängstigenden manipulativen Fähigkeiten ist. Gegen Ende lässt Bühling, der 2015 mit dem kunstvollen ZDF-Weihnachtsmärchen "Die weiße Schlange" debütiert und vor diesem Film das sehenswerte Musiker-Melodram "Nur mit Dir zusammen" (mit Vanessa Mai und Axel Prahl, 2020) gedreht hat, alle Zurückhaltung fahren; das Finale entspricht dem üblichen Thriller-Muster.