Elias steigt aus: Im Grunde genügen drei Worte, um die 110 Minuten lange Handlung von "Märzengrund" zusammenzufassen. Natürlich ist sie weitaus komplexer, aber auf diese Quintessenz läuft alles hinaus: Während anderswo junge Menschen auf die Straßen gehen, um zu protestieren und die Gesellschaft zu verändern, kehrt der Sohn eines Tiroler Bauern im Sommer 1968 der Welt und den Erwartungen seiner Eltern den Rücken und zieht sich auf eine Alm in der Einsamkeit der Berge zurück. Gelegentlich schaut ein Freund vorbei, um zu berichten, wie sich die Dinge im Tal entwickeln, aber ansonsten begnügt sich Elias mit dem, was ihm der murmelnde Bach erzählt. Schlicht "Märzengrund" hat Felix Mitterer sein 2016 uraufgeführtes Theaterstück genannt; der Titel bezieht sich auf das alpine Refugium.
Der Film erzählt die Geschichte in einer langen Rückschau; er beginnt mit der Einlieferung eines alten Mannes in ein Krankenhaus. Die Rückblende wiederum findet auf zwei Zeitebenen statt. Den Rahmen bildet das Leben in den Bergen, aber zwischendurch springt die Handlung immer wieder ein Jahr zurück: 1967 besucht der 18-Jährige Elias (Jakob Mader) eine Landwirtschaftsschule. Seine Zukunft ist vorgezeichnet. Für den strengen Vater (Harald Windisch) steht außer Frage, dass der Junge nach dem Schulabschluss sein Nachfolger wird. Der Hof ist der größte im Tiroler Zillertal, Elias wächst wie ein Kronprinz auf. Dass er aus der Tradition ausbrechen könnte, ist im Weltbild der Eltern nicht vorgesehen.
Allerdings deuten sich die ersten Risse im familiären Gefüge schon früh an.
Eine Szene genügt, um zu verdeutlichen, wie die Dinge in der Familie stehen: Als Elias’ Schwester (Iris Unterberger) Partei für ihren Bruder ergreift, gibt die Mutter (Gerti Drassl) ihr eine Ohrfeige. Der Vater klagt, dem Sohn fehle das natürliche Gespür für die Arbeit; und die Mutter gerät außer sich, als sich Elias in die deutlich ältere und skandalöserweise auch noch geschiedene Moid (Verena Altenberger) verliebt. Als er eines Tages zusammenbricht, diagnostiziert ein Arzt eine seelische Krise und will ihn in eine Heilanstalt einweisen. Der Vater weiß eine bessere Therapie: Der Junge soll ein halbes Jahr in die Almhütte der Familie leben. In dem maximal reduzierten Dasein findet Elias seine Bestimmung. Unten im Tal, stellt er fest, lebten die Menschen in ständiger Furcht: vor Armut, Krankheit und Freiheit. Aber er selbst habe nun endlich seinen Platz in der Gesellschaft gefunden: "weit weg von ihr."
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Fragen, die das Drehbuch anschneidet, ohne sie deshalb alle auszusprechen, machen "Märzengrund" zu einem hochaktuellen Film. Mitterer, auch hierzulande geschätzt und 1991 für sein Drehbuch zu dem bissigen Mehrteiler "Die Piefke-Saga" mit dem Grimme-Preis geehrt, hat die Erlebnisse der Hauptfigur einem authentischen Vorbild nachempfunden; Adrian Goiginger hat auf Basis des Stücks in enger Absprache mit dem Dramatiker das Drehbuch verfasst. Zum Glück hat der Verleih darauf verzichtet, den Tiroler Dialekt zu verwässern; Untertitel helfen über die eine oder andere Verständnislücke hinweg. Mit der gleichen Authentizität hat Goiginger vor einigen Jahren sein Regiedebüt gestaltet: "Die Beste aller Welten" handelte auf ungemein berührende Weise von einer süchtigen Mutter (Altenberger) und ihrem kleinen Jungen.
Der Kinofilm war 2018 gleich neunmal für den Österreichischen Filmpreis 2018 nominiert und in fünf Kategorien erfolgreich (darunter bester Spielfilm, beste Regie und bestes Drehbuch). Die besondere Qualität des Drogendramas hatte auch mit der biografischen Betroffenheit des Regisseurs und Autors zu tun: Goiginger hatte seine eigene Kindheit erzählt. Für "Märzengrund" gilt das natürlich nicht, aber der Regisseur konnte sich perfekt mit Elias identifizieren. Der vermeintlichen Handlungsarmut zum Trotz ist der Film selbst über eine Dauer von knapp zwei Stunden fesselnd, auch wenn sich die Kamera über weite Strecken darauf beschränkt, in langen Einstellungen und ruhigen Bildern Elias bei seinem Leben im Einklang mit der Natur zuzuschauen.
Manches bleibt bloße Andeutung: Der alte Elias (Johannes Krisch) fängt einen Fisch, betrachtet ihn und gibt ihm dann sein Leben zurück; er isst schon längst keine Tiere mehr. Ähnlich hintergründig inszeniert Goiginger die religiöse Ebene der Geschichte, als Elias eine metaphysische Begegnung mit seiner äußerlich unveränderten Jugendliebe hat und Moid ihm Erlösung im Jenseits verspricht. Deshalb ist der Schluss auch ein Happy End: Das Glück ist ein Vogel, und der braucht seine Freiheit. Die späte Sendezeit ist bedauerlich, aber der Film steht immerhin bereits in der Arte-Mediathek.