Für einen Autor, der seine Figuren liebt, ist es vermutlich ein Traum, sie über mehrere Jahre hinweg begleiten und entwickeln zu dürfen. Eine Reihe bietet zudem die Möglichkeit, in späteren Filmen auf frühere Ereignisse zurückgreifen zu können. Schon der vorige Woche wiederholte "Kroatien-Krimi" ("Tod im roten Kleid") erfreute durch ein Wiedersehen mit dem Vater der Kommissarin. Mit der Krimiebene hatte Branko Novak (Rufus Beck), der seine beiden Töchter miteinander versöhnen will, nichts zu tun, aber nun zeigt sich, wie clever Christoph Darnstädt die Handlung der nächsten Episode vorbereitet hat.
"Vor Mitternacht" (TV-Premiere war 2022) beginnt mit einem Geburtstagsessen für Branko. Tochter Stascha (Jasmin Gerat) macht sich rechtzeitig aus dem Staub, bevor ihre jüngere Schwester Minka (Jenny Meyer) auftaucht. Die Polizistin und das Partygirl waren einst ein Herz und eine Seele, doch dann hat Minka eine Grenze überschritten ("Jagd auf einen Toten"); seither reden sie nicht mehr miteinander. Aber auch Minka trifft auf jemanden, den sie lieber nicht wiedergesehen hätte: Vierter Teilnehmer des Abendessen ist Luka, der Cousin der beiden Frauen; und der wird am nächsten Morgen erstochen am Strand gefunden.
Da dem Toten eine wertvolle Goldmünze gestohlen worden ist, die er an einer Kette um den Hals trug, deutet aus Sicht der Polizei zunächst alles auf einen Raubmord hin. Allerdings bietet der Film gleich mit der zweiten Szene Minka als Verdächtige an: Sie sieht Luka und flüchtet aufs Klo; als er ihr folgt, zückt sie ein Springmesser. Später stellt sich raus, dass er sie vor Jahren nach einer Feier vergewaltigt hat. Luka ist für Branko stets wie ein eigener Sohn gewesen, die Wahrheit hätte dem Vater das Herz gebrochen; und mit Stascha konnte sie später auch nicht mehr über den Vorfall sprechen.
Diese familiäre Konstellation ist schon mal eine ausgezeichnete Voraussetzung für eine gute Krimi-Story, aber sie wird noch besser: Wegen der verwandtschaftlichen Beziehung überträgt der Polizeichef (Max Herbrechter) die Leitung des Falls dem Kollegen Emil (Lenn Kudrjawizki). Der verfolgt eine ganz andere Spur: Neben dem Toten lag ein Tütchen, bei dessen Inhalt es sich nicht etwa, wie er zunächst vermutet, um die Droge Crystal Meth handelt; und nun kommt ein einige Zeit zurückliegender Überfall in Zagreb ins Spiel, bei dem unter anderem auch Rohdiamanten gestohlen worden sind.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Im Rollentausch zwischen Emil und seiner Chefin liegt ein besonderer Reiz des Films, und das nicht nur, weil er nun weisungsbefugt ist. Als Stascha ahnt, was der mehrfach wegen sexueller Nötigung angezeigte Luka ihrer Schwester angetan hat, verfolgt sie die Ermittlungen des Kollegen stoisch, aber auch hin und her gerissen: Sie glaubt, die Wahrheit zu kennen, zumal die Bilder einer Überwachungskamera zeigen, wie Minka die Münze in einem Mülleimer wirft; aber sie will sie auch nicht verraten. Gleichzeitig gibt es Hinweise, dass Emil doch nicht derart auf dem Holzweg ist, wie Stascha äußerst schmerzhaft am eigenen Leib erfährt: Als sie Lukas Hotelzimmer durchsucht, wird sie brutal von einem Fremden (David Bredin) niedergeschlagen. Kurz drauf wird der Mann ebenfalls erstochen, und da es sich um dieselbe Tatwaffe handelt wie beim ersten Mord, ist Minka anscheinend aus dem Schneider.
Im Unterschied zu "Tod im roten Kleid" hat Darnstädt "Vor Mitternacht" um eine amüsante Note ergänzt. Dafür steht unter anderem ein Typ, der gleichermaßen Gangster wie Polizist sein könnte und dessen Undurchsichtigkeit von Bernhard Piesk regelrecht zelebriert wird. Gerade die Dialoge mit dem Rezeptionisten im Hotel sind eine kleine Freude, zumal Moritz Leu den Angestellten ebenfalls mit einem beiläufigen Augenzwinkern verkörpert. Ähnlich amüsant sind die kleinen Momente mit Sarah Bauerett als Rechtsmedizinerin, die offenbar ein Auge auf die attraktive Kommissarin geworfen hat.
Die wiederum trägt die unübersehbaren Folgen ihrer intensiven Auseinandersetzung mit dem Aktenkoffer des Fremden fortan wie ein Abzeichen; ein unübersehbares Pendant zum Knutschfleck aus dem letzten Film. Dramaturgisch gibt es ebenfalls Parallelen: Erneut verblüfft Darnstädts Drehbuch gegen Ende durch eine unerwartete Volte, und wie zum Trotz gegenüber all’ der Tragik endet der Krimi mit einem Moment kurzer Heiterkeit. Besondere Beachtung verdient auch diesmal die Bildgestaltung, zumal viele Szenen verdeutlichen, dass sich Michael Kreindl (Regie) und Anton Klima (Kamera) nicht mit der erstbesten Einstellung zufrieden gegeben haben.