In dem grimmigen Theaterstück "Geschlossene Gesellschaft" (1944) von Jean-Paul Sartre sind zwei Frauen und ein Mann, die große Schuld auf sich geladen haben, in der Hölle dazu verdammt, einander auf ewig zu quälen. Gut siebzig Jahre später hat Jan Weiler das Stück auf ungewöhnliche Weise in die Gegenwart übertragen: In seinem Hörspiel "Eingeschlossene Gesellschaft" (2017) wird ein Kollegium an einem Freitagnachmittag von einem zornigen Vater im Lehrerzimmer eingesperrt. Die Lehrkräfte sollen darüber nachdenken, ob sie seinem Sohn Fabian wirklich die Zukunft verbauen wollen: Dem Jungen fehlt ein einziger Punkt für die Zulassung zum Abitur.
Weiler, Autor erfolgreicher und gleichfalls verfilmter Romane wie "Maria, ihm schmeckt’s nicht" und "Das Pubertier", hat seine Vorlage selbst adaptiert, Sönke Wortmann hat das Drehbuch zu seinem zweiten Schulfilm nach "Frau Müller muss weg!" (2015) in eine gelungene Form übertragen: Das Lehrerzimmer ist ein heller großer Raum, die Bildgestaltung (Jo Heim) lässt den Film nie wie ein Kammerspiel wirken, aber da die Kamera das Kollegium regelmäßig umkreist, wird die Ausweglosigkeit der Situation immer wieder deutlich. Wie Wortmanns dramaturgisch und optisch ganz ähnlich konzipierte Tragikomödie "Der Vorname" (2018, ebenfalls von Heim fotografiert) funktioniert auch "Eingeschlossene Gesellschaft" als fast in Echtzeit umgesetzte Einheit von Zeit und Raum.
Abgesehen von kurzen Rückblenden wird die Erzählung nur durch einige polizeiliche Exkurse unterbrochen: Mit Hilfe eines konfiszierten Smartphones kann das Sextett einen Notruf absetzen, aber weil es an diesem Tag bereits mehrere Hinweise auf vermeintliche schulische Geiselnahmen und Amokläufe gab, nimmt niemand im Revier den Anruf ernst. Die Handlung kann sich also voll und ganz auf das Mit- und Gegeneinander im Kollegium konzentrieren: Schon bald geht es nicht mehr um Fabian, sondern um zum Teil über Jahre gewachsene Animositäten, die nun in unverhohlene Feindseligkeit ausarten. Dank des formidablen Ensembles und der mit viel Liebe zum boshaften Detail formulierten Dialoge ist es ein außerordentliches Vergnügen, dem Kollegium dabei zuzuschauen, wie sich seine Mitglieder zerfleischen.
Die Besetzung hätte Wortmann allerdings gern stärker gegen den Strich vornehmen können, zumal das Kostümbild die Klischees der jeweiligen Rollen noch unterstreicht: Anke Engelke (Französisch und Musik) als zugeknöpfte ältliche Gouvernante, Florian David Fitz (Sport und Erdkunde) als Flegel im Trainingsanzug, Justus von Dohnány (Latein und Mathematik) als personifizierte kleinbürgerliche Korrektheit, Torben Kessler (Chemie und Physik) als Außenseiter, der selbst innerhalb des Kollegiums gemobbt wird. Gerade die Älteren verbreiten die Haltung, Schule könnte ein ganz wunderbarer Ort sein, wenn bloß die Schülerinnen und Schüler nicht wären.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Tatsächlich ist nur ein Lehrer (Thomas Loibl) im Zweifelsfall auf der Seite seiner Schutzbefohlenen, aber selbst dieser Mann ist nicht ohne Fehl und Tadel, wie Fabians Vater (Thorsten Merten) triumphierend offenbart, nachdem er sich im verwaisten Sekretariat die Personalakten der Beteiligten besorgt hat. Nicht alle Fehltritte mögen justiziabel sein, aber aus moralischer Sicht ist das Strafregister – Betrug, Ehebruch, Pornografie, Denunziantentum – erschreckend. Nicht mal die idealistische Referendarin (Nilam Farooq), die frischen Wind in das Gymnasium bringen und die verkrusteten Strukturen aufbrechen möchte, ist über jeden Zweifel erhaben.
Schauspielerisch ist "Eingeschlossene Gesellschaft" ausnahmslos sehenswert, zumal die Mitwirkenden prächtig miteinander harmonieren. Zwei Jahre nach dem Kinostart wirken Gender-Gags ("Lehrjahre sind keine Herrinnenjahre") jedoch bereits altbacken. Und womöglich gibt es ja noch Lehrkräfte nach klassischem Paukervorbild, aber die Figuren, die Engelke und Dohnány verkörpern, wirken doch sehr aus der Zeit gefallen. Ihrer Arroganz und ihrem Zynismus hat der Film allerdings viel von seiner bösen Heiterkeit zu verdanken. Für hintergründige Spannung sorgt ein Experiment, an das der Chemielehrer mehrfach erinnert, weil eine Explosion droht, für ein bisschen Klamauk die Polizei, die schließlich doch noch mit "großem Orchester" ausrückt.