Gerade die Krimis mit Ulrich Tukur als Felix Murot sind ein besonderes Vergnügen. In seinem zwölften Fall erlebt der Wiesbadener LKA-Kommissar auf der Suche nach dem Glück in einer Art virtueller Realität Abenteuer, die nur wenigen Sterblichen vergönnt sind. In der verblüffendsten Szene des Films (TV-Premiere war 2023) schwebt er zu den Klängen von "An der schönen blauen Donau" in Sichtweite einer riesigen Raumstation durchs All, als sei er eine Figur aus dem Stanley-Kubrick-Klassiker "2001: Odyssee im Weltraum".
Noch unglaublicher ist ein weiterer Moment. Murot muss ihn zwar mit dem Leben bezahlen, rettet dafür aber viele Millionen andere. "Das ist doch kein Krimistoff!", werden die konservativen Mitglieder der "Tatort"-Gemeinde einwenden, und ganz falsch liegen sie damit nicht. Trotzdem sind die Ereignisse Teil der Ermittlungen: Der Polizist hat sich auf eine dunkle Seite locken lassen. Im Tausch gegen die überirdisch anmutenden Gratifikationen, zu denen auch ein Telefonat mit Gott (genau genommen mit Göttin) gehört, soll er die Ermittlungen einstellen, und weil Glück süchtig macht, tut er das auch; selbstverständlich geht er dabei einen Pakt mit dem Teufel ein (genau genommen mit einer Teufelin).
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
All’ das kann der Kommissar nicht ahnen, als er zu Beginn einem Psychoanalytiker (Martin Wuttke) sein Leid klagt: Sein Leben lang sei er unablässig auf der Suche gewesen, und "dann ist man plötzlich sechzig und kapiert, dass man nichts kapiert hat." Mittendrin meldet sich sein Telefon: ein Leichenfund. Die Tote ist eine Investmentbankerin, deren Körper allerdings keinerlei Spuren von Gewalt aufweist. Die Obduktion ergibt jedoch zwei mysteriöse Befunde: Die Frau hat offenbar längere Zeit in trinkbarem Wasser verbracht, ist aber trotzdem verdurstet. Außerdem ist ihr Bauchnabel operativ entfernt und durch eine Öffnung ersetzt worden, über die ihr künstlich Nahrung zugeführt werden konnte. Kurz drauf gibt es einen ganz ähnlichen weiteren Todesfall, diesmal ist der Tote ein Mann. Beide haben im Finanzsektor gearbeitet und kurz vor ihrem Ableben absurde Transaktionen vorgenommen, von denen jemand in enormem Maß profitiert hat. Die Freundin des ersten Opfers, eine auf äußerst reizvolle Weise rätselhafte Tänzerin (Iona Bugarin), bringt Murot schließlich auf die richtige Spur: Mit ihrer Hilfe lernt er Eva Lisinska (Brigitte Hobmeier) kennen, eine Frau, die ihm den Weg ins Paradies zeigt, allerdings zu erwähnen vergisst, dass damit auch sein Schicksal besiegelt ist.
"Murot und das Paradies" ist der erste Sonntagskrimi von Florian Gallenberger (Buch und Regie). Der einst für seinen Kurzfilm "Quiero ser" über Straßenkinder in Mexiko mit einem "Oscar" und für seinen ersten Langfilm "Schatten der Zeit" (2004) mit dem Bayerischen Filmpreis geehrte Regisseur liebt offenbar die Abwechslung: Nach der schönen Tragikomödie "Grüner wird’s nicht, sagte der Gärtner und flog davon" (2018) mit Elmar Wepper und dem nicht minder sehenswerten Weltkriegs-Zweiteiler "Der Überläufer" (2020) nach Siegfried Lenz hat er zuletzt die turbulente Beziehungskomödie "Es ist nur eine Phase, Hase" (2021) gedreht. Sein "Tatort"-Debüt zeichnet sich durch eine gelungene Balance von Handwerk und Inhalt aus. Die von vielen Grautönen geprägte Bildgestaltung (Holly Fink) ist eindrucksvoll, aber besonders imposant sind natürlich die Szenen im All.
Kontrapunkt zu diesen Bildern sind die immer wieder eingeschobenen Gespräche des Kommissars mit dem Analytiker, hier wird der eigentliche Kern des Films formuliert. Hier offenbart sich Murot auch als Glückssucher, der weniger an der Welt, sondern vor allem an den Menschen leidet, an ihrer Gier, an Ausbeutung und Korruption, an der Zerstörung der Natur. Das unterscheidet ihn von all’ jenen, die bislang zur Klientel von Eva Lisinka gehörten, denn die, sagt sie, litten vor allem an ihrer eigenen Leere. Am Ende erkennt der Kommissar, dass er auf dem Holzweg war: "Das perfekte Glück ist die Hölle"; erst die Existenz des Unglücks schaffe die Voraussetzung, um überhaupt glücklich sein zu können. Wem das zu philosophisch und Szenen wie der Ausflug ins All zu abgehoben ist: "Murot und das Paradies" ist trotz allem ein Krimi, der sich mitunter sogar selbst nicht ganz ernst nimmt; die Auftritte von Eva Mattes als Rechtsmedizinerin zum Beispiel sind ebenso vergnüglich wie der witzige Epilog, mit dem Gallenberger die Geschichte noch mal von vorn beginnt.