Junge Erwachsene in Pflegeverantwortung

Nadjila Bendig-Behrens
epd-bild/privat
Pflegemanagerin Nadjila Bendig-Behrens spricht aus eigener Erfahrung, wenn es um die Pflege Angehöriger geht und engagiert sich daher beim Projekt "Young Carer Coach".
Plötzlich "Young Carer"
Junge Erwachsene in Pflegeverantwortung
Nadjila Bendig-Behrens kennt die Situation junger pflegender Angehöriger aus eigener Erfahrung. In einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) berichtet die heute 32-jährige Gesundheits- und Pflegemanagerin über ihre persönlichen Erfahrungen. Als ihre Mutter vor zehn Jahren an einer Hirnhautentzündung erkrankte, pflegte Bendig-Behrens sie drei Jahre bis zu ihrem Tod. Heute engagiert sie sich als Host von "Young Carer Coach" dafür, andere junge pflegende Angehörige zu unterstützen.

epd: In jeder Schulklasse sitzen etwa ein bis zwei Kinder mit Sorge- und Pflegeverantwortung. Wie kommt es, dass ausgerechnet Kinder und Jugendliche Angehörige pflegen und betreuen?

Nadjila Bendig-Behrens: Für viele junge Menschen ist es selbstverständlich, ihre Eltern, Geschwister oder entfernteren Verwandten bei einem Notstand zu unterstützen. Wenn zum Beispiel ein 15- oder 16-jähriges Kind plötzlich erfährt, dass seine Mutter an Krebs erkrankt ist, ist das für die ganze Familie eine Ausnahmesituation. Die Pflege ist dann nicht geplant. Wichtig ist, dass in solchen Fällen die Familie ein Hilfsnetzwerk aufbaut und Unterstützung von außen bekommt, damit die Kinder entlastet werden.

Welche Aufgaben übernehmen die Kinder im Rahmen der Pflegearbeit?

Bendig-Behrens: Ich ziehe es vor, hier von Sorgearbeit statt reiner Pflegearbeit zu sprechen. Denn oft wird unter Pflege nur die praktische Körperpflege verstanden. Tatsächlich übernehmen pflegende Angehörige - sowohl Erwachsene als auch Kinder - eine Vielzahl an Aufgaben wie Kontakt mit Behörden, Unterstützung bei den Vorsorgevollmachten oder die Kontrolle des Gesundheitszustands.

Solche nicht-pflegerischen Tätigkeiten sind ebenso Teil des Pflegealltags, der sich über Jahre ziehen und zu Überlastung führen kann. Es geht bei der Versorgung Pflegebedürftiger nicht nur um die reine Körperpflege, sondern um die ganzheitliche Begleitung und Unterstützung in allen Lebensbereichen.

Sie waren 20 Jahre alt, als Ihre Mutter plötzlich erkrankt ist. Wie haben Sie die Zeit erlebt?

Bendig-Behrens: Mit der Erkrankung meiner Mutter hat sich mein Leben schlagartig verändert. Gerade hatte ich die Schule abgeschlossen und war auf einer Backpacking-Reise, als ich die Nachricht erhielt, dass meine Mutter im Koma liegt. Als sie schließlich erwachte, war sie plötzlich ein Pflegefall. Sie saß im Rollstuhl, konnte sich an kaum etwas aus der Vergangenheit erinnern, und ihr Kurzzeitgedächtnis war stark eingeschränkt.

"Es war schlimm zu sehen, dass meine Mutter nicht mehr die gleiche Person war."

Diese Situation war eine enorme Herausforderung für unsere Familie. Es war schlimm zu sehen, dass meine Mutter nicht mehr die gleiche Person war. Letztlich entschieden wir als Familie, dass sie in ein Pflegeheim ziehen sollte, da eine 24-Stunden-Betreuung notwendig war. Etwa drei Jahre später starb meine Mutter.

Was hat sich für Sie in den drei Jahren verändert?

Bendig-Behrens: Diese Erfahrung hat mich tief geprägt und meinen Lebensweg entscheidend beeinflusst. Ich hatte große Träume für mein Leben und wollte eigentlich an einem anderen Ort und für eine Zeit im Ausland leben. Doch plötzlich war ich in einer Situation, in der ich erwachsen sein und für meine Mutter Entscheidungen treffen musste und meine eigenen Bedürfnisse teilweise hinten anstellte.

"Genau diese Art von Unterstützung hätte ich mir damals in meiner eigenen Situation sehr gewünscht."

Wie ging es für Sie während der belastenden Jahre beruflich weiter?

Bendig-Behrens: Ich entschied mich, eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen, um kompetent mit Pflegekräften und Ärzten sprechen zu können. Danach studierte ich Gesundheits- und Pflegemanagement, um in diesem Bereich Expertin zu werden. Seit fünf Jahren arbeite ich jetzt in der Pflegeberatung. Ich berate berufstätige pflegende Angehörige und biete ihnen Schritt-für-Schritt-Unterstützung. Genau diese Art von Unterstützung hätte ich mir damals in meiner eigenen Situation sehr gewünscht.

Wie sehen Sie rückblickend auf die Zeit als "Young Carerin"?

Bendig-Behrens: Die Zeit als junge pflegende Angehörige hat mich extrem herausgefordert und oft an meine Grenzen gebracht. Gleichzeitig bin ich dadurch sehr gewachsen und habe mich zu dem Menschen entwickelt, der ich heute bin. Zudem bin ich unendlich dankbar, dass meine Mutter nach dem Koma wieder aufgewacht ist und wir noch drei ganz besondere Jahre miteinander verbringen durften.

Welche Möglichkeiten und Perspektiven ergeben sich aus der Rolle als junge pflegende Angehörige auf lange Sicht?

Bendig-Behrens: Junge pflegende Angehörige machen häufig wertvolle Erfahrungen in Bereichen wie Empathie und Mitgefühl. Da sie sehr sensibel auf die Bedürfnisse und möglicherweise nonverbalen Signale der zu pflegenden Person reagieren müssen, entwickeln sie soziale Kompetenzen, die ihnen auf ihrem weiteren Lebensweg zugutekommen.

"Oft müssen sie den Alltag für die gesamte Familie koordinieren."

Sie wachsen in jungen Jahren in verantwortungsvolle Rollen hinein und lernen dadurch sehr früh, selbstständig mit Behörden und im Gesundheitssystem zu kommunizieren. Das stärkt langfristig ihre Kommunikations- und Organisationsfähigkeiten. Darüber hinaus erwerben sie praktische Fertigkeiten wie Zeitmanagement. Oft müssen sie den Alltag für die gesamte Familie koordinieren.

Hat die Rolle als junge pflegende Angehörige auch Einfluss auf die spätere Berufswahl?

Bendig-Behrens: Oftmals ja. Durch ihre Erfahrungen als Young Carer erhalten die Jugendlichen wertvolle Einblicke in die Themenbereiche Gesundheit und Pflege. Sie können ihre Erfahrungen etwa im Pflegebereich, in der Medizin oder der Sozialen Arbeit nutzbringend einsetzen, um anderen in ähnlichen Situationen Unterstützung zu bieten.

"Über Social Media teilen wir Tipps und Anregungen."

Ihre Rolle als Young Carer kann sie, sofern die Belastungen nicht zu stark waren, darin bestärken, sich zukünftig für Menschen in Notlagen oder mit Unterstützungsbedarf zu engagieren. Durch ihre anspruchsvolle Care-Arbeit erlangen sie wertvolle Fähigkeiten, von denen sie selbst und auch die Gesellschaft profitieren können.

Welche Anliegen verfolgt das Projekt "Young Carer Coach" neben dem Ziel, junge Pflegende sichtbarer zu machen?

Bendig-Behrens: Ein zentrales Ziel des Projekts ist es, für das Thema zu sensibilisieren und junge Pflegende zu vernetzen. Oft wissen die Betroffenen selbst nicht, dass sie "Young Carer" sind. Wir informieren sie über ihre Rolle als Sorge- und Pflegeverantwortliche und geben ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein, indem wir ihnen Austausch mit anderen in gleicher Situation ermöglichen. Über Social Media teilen wir dazu Tipps und Anregungen. Gleichzeitig ist es uns ein Anliegen, auch das soziale Umfeld wie Familien, aber auch Lehrkräfte, Ärztinnen und Ärzte sowie Sozialarbeitende auf die Bedürfnisse junger Pflegender aufmerksam zu machen. Oft werden die Auswirkungen von Krankheiten auf das gesamte Familiensystem übersehen.

An unserem Aktionstag am 6. Juni in München möchten wir mit der "An Deiner Seite - Gerhard und Gertrud Schmieder Stiftung" daher möglichst viele relevante Akteurinnen und Akteure zusammenbringen, um dieses wichtige Thema ins Bewusstsein zu rücken und junge Pflegende besser zu unterstützen. In erster Linie wollen wir aber unsere "Young Carers" kennenlernen. Darauf freue ich mich am meisten.