Der Titel weckt womöglich falsche Erwartungen: Die "Wilsberg"-Folge "90 – 60 – 90" ist konsequent jugendfrei. Andererseits ist der Film gerade für ein junges Publikum interessant, denn hinter der Kriminalgeschichte verbirgt sich eine zwar gut und unterhaltsam verpackte, aber auch unverblümte Botschaft: Die Prominenz eines Menschen macht ihn noch lange nicht zum öffentlichen Eigentum.
Protagonistin dieser Popularität ist Sonja (Jasmin Lord), eine junge Frau aus Münster, die es dank ihrer Teilnahme an einer Model-Castingshow zu einer gewissen Bekanntheit gebracht hat. Ihr Stern scheint zwar schon wieder zu sinken, doch sie fühlt sich auf Schritt und Tritt beobachtet. Tatsächlich kommt es zur einer Häufung beängstigender Ereignisse im direkten Umfeld des Mädchens. Weil Wilsberg (Leonard Lansink) Sonja aus den Fängen eines handgreiflichen Kaufhausdetektivs befreit hat, engagiert sie ihn als Personenschützer, aber selbst das Antiquariat des Privatdetektivs bietet keine sichere Zuflucht; und dann wird der Assistent ihrer Mutter und Managerin (Karoline Eichhorn) erschossen.
"90 – 60 – 90" war 2014 die vierundvierzigste Episode der Reihe. Regie führte wie beim zuvor ausgestrahlten "Wilsberg"-Krimi ("Das Geld der Anderen") Dominic Müller, der diesen Film allerdings ungleich spannender anlegt. Das liegt nicht zuletzt an der Bildgestaltung durch Simon Schmejkal: Gemeinsam mit der elektronischen Musik von Matthias Weber erzeugt die Kameraführung immer wieder Thriller-Atmosphäre, weil das Model tatsächlich verfolgt wird; sehr effektvoll inszeniert Müller auch die schockierenden Installationen des Stalkers. Wilsberg findet raus, dass ein Fotograf (Oliver Wnuk), mit dem Sonja eine Affäre hatte, wie besessen von dem jungen Model ist. Für die bösen Streiche aber ist jemand ganz anderes verantwortlich, für den Mord auch; und der Fotograf entpuppt sich als tragische Figur der Geschichte.
Die Freunde der Reihe erwarten von "Wilsberg" stets auch humorvolle Elemente, und sie werden dank diverser sarkastischer Dialogzeilen und einiger Anleihen beim Boulevardtheater auch nicht enttäuscht, doch "90 – 60 – 90" ist weit weniger witzig als viele andere Filme der Reihe. Der Humor entsteht eher beiläufig, fast subtil, und oft erst aus einer Art augenzwinkerndem Einvernehmen mit den Fans, wenn beispielsweise Kommissarin Springer (Rita Russek) den Detektiv auffordert, zum gemeinsamen Abendessen Wein mitzubringen, und der das kurzerhand an seinen Freund Ekki (Oliver Korittke) delegiert. Der wiederum hat Sonja einst im Rahmen einer ehrenamtlichen Jugendarbeit betreut und kann sich an der attraktiven jungen Frau kaum satt sehen; dabei zeigt Jasmin Lord in der Rolle nicht mehr als ihre schönen Beine.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Davon abgesehen verkörpert sie gerade die Verletztheit des Models sehr glaubwürdig. Gleiches gilt für Karoline Eichhorn als typische Eislaufmutter, die ihre Tochter dazu missbraucht, die eigenen Lebensträume zu verwirklichen. Sehr hübsch sind zudem zwei Gastrollen: Collien Ulmen-Fernandes spielt ein radebrechendes Zimmermädchen, Max Giermann eine Art jugendliche Ausgabe von Karl Lagerfeld. Der Komödiant präsentiert auch den obligaten Bielefeld-Gag: Es wäre der Karrieretiefpunkt des Designers, dort eine neue Kollektion präsentieren zu müssen.
"90 – 60 – 90" war nach "Miss-Wahl" (2006) und "Das Jubiläum" (2008) Stefan Rogalls drittes "Wilsberg"-Drehbuch. Die Geschichte ist gut, die Umsetzung spannend, die Dialoge sind pointiert und gerade zu Beginn von sanfter Bosheit; das Reihen-Ensemble ist ohnehin sehenswert wie stets. Sorgsam erdachte und umgesetzte Szenenwechsel verdeutlichen die für "Wilsberg" typische Liebe zum Detail. Weil Sonja immer wieder von aufdringlichen Fans heimgesucht und von einem Paparazzo bis aufs Klo verfolgt wird, vermittelt der Film auch eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen muss, kein Privatleben mehr zu haben; besonders prägnant ist eine alptraumhafte Tanzflächenszene.
In einer Hinsicht aber unterschätzt Rogall die Fähigkeit des Publikums, eins und eins zusammenzuzählen: Gleich zu Beginn wird aus einem Waldsee eine Leiche gefischt, die offenbar schon länger im Wasser gelegen hat. Kurz drauf erfährt man, dass der Rechtsmediziner die DNS von Prominenten sammelt und sich daher freut, dass Overbeck (Roland Jankowsky) ihm ein Haar von Sonja überlässt. Später fällt dann beiläufig die Bemerkung, ihr Vater sei vor einiger Zeit spurlos verschwunden.