Die Parallelen sind offenkundig: Ein Mann wird von seiner Mafia-Vergangenheit eingeholt und im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms auf einer Insel versteckt. Als seine nahezu erwachsene Tochter die erzwungene Isolation nicht mehr aushält und Kontakt mit ihrer besten Freundin aufnimmt, geraten die beiden umgehend ins Visier der Camorra-Killer; dies war die Handlung des fesselnden Thrillers "Der Feind meines Feindes" (2022).
"Der Gejagte" erzählt zunächst eine nahezu identische Geschichte. Allerdings gibt es einen bedeutenden Unterschied: Hans Sigl spielte in dem ZDF-Film einen Anwalt, aber der angesehene Südtiroler Winzer Matteo DeCanin (Tobias Moretti) war einst ein Mörder, der seine Feinde auch heute noch ohne mit der Wimper zu zucken hinrichtet. Der Film ist die Fortsetzung des spannenden ZDF-Zweiteilers "Im Netz der Camorra" (2021, Regie: Andreas Prochaska). Der zweite Teil war Finale pur; für die dritten neunzig Minuten gilt das nach dem Auftakt nicht minder.
Der Prolog zeigt düstere Aufnahmen einer Tiefgarage. Aus dem Off berichtet Laura DeCanin (Morettis Tochter Antonia) vom Zeugenschutzprogramm. Derweil rollt ein Wagen ins Bild. Trotz der Ahnung, was als nächstes passieren wird, ist die Explosion wie ein Schock. Ihre Mutter, erzählt Laura, habe immer gesagt: "Wir gehen zurück, irgendwann"; aber es gibt kein Zurück. Auf den Vorspann folgt ein Gespräch zwischen Vater und Tochter, das wie ein Schattenriss gefilmt ist. Die vorzügliche Bildgestaltung (Ralph Kaechele) nutzt fortan ohnehin oft Gegenlichteinstellungen, um die Gesichter der Figuren und damit auch ihre Motive im Ungefähren zu lassen. Dazu passt das Zwielicht, in dem viele Szenen spielen; selbst bei Sonnenschein wirken die Bilder unhell. Die Musik (Stefan Bernheimer) wiederum ist bemerkenswert kraftvoll und sorgt für ständige Spannung.
Laura klagt, auf der Insel ersticke sie alles, die Umgebung ebenso wie der Vater, dem sie die Schuld am Tod der Mutter gibt. Außerdem wirft sie ihm vor, er habe ihr ihr Leben genommen. Kurz drauf telefoniert sie mit ihrer Freundin Chiara (Clara Wolfram), die sie überredet, mit nach Südamerika zu kommen. Kurzerhand klaut Laura ein Boot und verlässt die ligurische Insel, aber die Mafia hat Chiaras Telefon angezapft. Clan-Chefin Antonia Romano (Gerti Drassl) weiß nun nicht nur, wo der Kronzeuge bis zum Prozess gegen 48 Mitglieder der neapolitanischen "Familie" versteckt wird; mit Laura hätte sie zudem ein Faustpfand, um sein Schweigen zu erpressen. Also lockt sie die junge Frau mit einer vermeinlichten SMS der Freundin auf das verwaiste Bozener Weingut der DeCanins und damit in die Falle. Derweil demonstriert Matteo, wozu er fähig ist, als zwei Killer auf die Insel kommen; dann macht er sich auf den Weg, um seine Tochter zu retten. Der Titel ist nicht ganz zutreffend: Dieser Mann ist kein Gejagter, sondern ein Jäger.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Wie in nahezu allen Mafia-Filmen ist der Held auf sich allein gestellt, weil der Clan seine Leute überall hat; natürlich auch bei der Polizei. DeCanins einziger Mitstreiter ist der etwas abgerissen wirkende Polizist Adrin Erlacher; Harald Windisch hat diese reizvolle Rolle bereits im ersten Film verkörpert. Auf derselben Seite stehen der Gendarm und der ehemalige Mafioso trotzdem nicht. Neu im Ensemble ist Katia Fellin. Die Südtirolerin, die zuletzt schon in dem ARD-Künstlerkrimi "Der Tod kommt nach Venedig" (2022) sehr präsent war, spielt Erlachers Kollegin, die jede neue Information umgehend an Romano weitergibt; auf diese Weise ist die Mafia den Behörden stets einen Schritt voraus. Selbstredend sorgt die Patin dafür, dass es keine lästigen Zeugen gibt.
Das Drehbuch stammt von dem Schweizer Autor Stefan Brunner, der unter anderem die Vorlage für den vielversprechenden Auftakt des weiblichen "Tatort"-Duos aus Zürich geschrieben hat ("Züri brännt", 2020). Regie führte Rick Ostermann. Sein beachtliches Kinodebüt war das Nachkriegsdrama "Wolfskinder" (2014); zuletzt hat die ARD seine herausragend gute Fußballserie "Das Netz – Spiel am Abgrund" gezeigt. Seine Beiträge zu ZDF-Reihen wie "Dengler" oder "Ostfriesen…" zeichneten sich zwar durch eine eher bedächtige Inszenierung aus, aber das ist diesmal ganz anders; das Finale, als DeCanin in die Höhle der hochschwangeren und einst in ihn verliebten Löwin eindringt, ist packendes Actionfernsehen. Trotzdem ist es neben Windisch vor allem Tobias Moretti, der diesem Film eine besondere Note verleiht: weil sein Charisma gewährleistet, dass man ihm auch durch die moralischen Untiefen folgt.