Sich kümmern rettet die Welt

evangelisch.de-Portalleiter Markus Bechtold auf der re:publica 2024
Markus Bechtold/evangelisch.de
Auf der re:publica 2024 spricht evangelisch.de-Portalleiter Markus Bechtold mit vielen Menschen, um herauszufinden, welche Ideen es gibt, die Welt lebenswerter und zukunftsfähig zu machen.
Was ich von der re:publica 2024 mitnehme
Sich kümmern rettet die Welt
Die Welt soll ein besserer Ort werden. Die Digitalkonferenz re:publica will dazu beitragen. Wie klappt das? Eine Reflexion von evangelisch.de-Portalleiter Markus Bechtold.

Der Zug nach Berlin ist brechend voll. "Wie lassen sich Menschen besser dafür interessieren, sich umeinander zu kümmern?", frage ich mich und denke weiter: "Nicht um Geld, Autos, Häuser oder Luxusurlaube, sondern um das Wohl des Nächsten, sei es die alte Tante, der gestresste Kumpel oder die Bettlerin an der Straßenecke? Oder die Menschen, die wegen Krieg, Diskriminierung oder den Folgen des Klimawandels ihre Heimat verlassen müssen? Wie schaffen wir Benachteiligungen ab für ein gutes Gemeinwohl – und das weltweit?"

"Hier gilt der Weg der Umsicht", reißt mich der Zugbegleiter der Deutschen Bahn mit seiner sonoren Ansage aus meinen Gedanken zurück in die Welt und appelliert weiter: "Machen Sie, wenn es Ihnen möglich ist, Ihren Platz frei für Schwangere, Ältere, Kinder oder Menschen mit Handicap." Ja, "Umsicht", das könnte ein Anfang sein, denke ich und fahre weiter zur re:publica nach Berlin, die in diesem Jahr optimistisch oder sorgenvoll, fast trotzig unter dem Motto "Who Cares?" stattfindet, also doppeldeutig: wer kümmert sich oder wen kümmert’s?

"Die Stärke einer Gesellschaft bemisst sich an der Lebensqualität ihrer schwächsten Mitglieder - und derer, die sich um sie kümmern", kündigt die Veranstaltung an. "Letztere werden wir in naher Zukunft immer mehr brauchen, denn so viel scheint sicher: Die fitten Jahre sind vorbei!", sagen die Macher der Veranstaltung. Es braucht keine Menschen, die wegsehen, es braucht Kümmerer und keine Benachteiligungen innerhalb der Care-Arbeit.

"Würde man die umsonst geleistete Sorgearbeit von Frauen und Mädchen weltweit mit einem Mindestlohn bezahlen, wäre diese Summe 25-mal größer als der Umsatz von Facebook, Google und Apple zusammen", heißt es in der Ankündigung der Mini-Lesung der Bestseller-Autorin Alexandra Zykunov zur unsichtbaren Care-Arbeit als größtem Wirtschaftsfaktor unseres Landes. Hier und an vielen anderen Stellen setzt die re:publica an. Sie will Lösungen aufzeigen.

Mit eigenen Ideen nötigen Wandel vorantreiben

Ich stelle mir vor, die re:publica wäre eine alte Bekannte und ich bei ihr zu Besuch. Eine, die mich zu überraschen weiß, auch wenn ich keine Überraschungen mehr erwarte. Mit der man viele inhaltsreiche Gespräche führen kann. Das gelingt ihr, indem intensiv diskutiert, neue Perspektiven beleuchtet, mögliche Antworten und Lösungen gefunden und auch gefeiert werden soll. Tanz ist Bewegung. Bewegung ist gut. Die re:publica schafft dafür Raum. Diese Selbstvergewisserung ist nichts Schlechtes, im Gegenteil: Sie kann stark machen. Mit den Ideen, die entstehen und wachsen, kann der nötige Wandel für eine lebenswerte Zukunft vorangetrieben werden.

Drei volle Tage, über 800 Veranstaltungen, auf dem Gelände alles zusammen gerechnet sogar über 1.000 Veranstaltungen - ausverkauft. Was schaffe ich überhaupt davon aufzunehmen. Von was werde ich erzählen?

Wie können wir uns umeinander kümmern? evangelisch.de-Portalleiter Markus Bechtold (links im Bild) hört auf der re:publica 2024 viel zu.

Etwa hiervon: "Wie schafft man es, gegen harte Wände anzulaufen, ohne selbst hart zu werden?", fragt die deutsch-kroatische Schriftstellerin Jagoda Marini? und appelliert an die eigene Selbstfürsorge. Sie kritisiert die vorherrschende negative Sichtweise in Deutschland. Wer ein Projekt fördern wolle, müsse ein Defizit formulieren. "Gutes wird in unserem Land nicht gestärkt. Wir müssen lernen, auf Gutes zu vertrauen." Das Gute bekäme in Deutschland keine Kraft und keine Aufmerksamkeit. In dem Bestreben, sich selbst zu positionieren, hätten wir verlernt, anderen zuzuhören.

Sie selbst wolle auch nicht mehr das stärken, was sie bekämpfe, sondern das stärken, wofür sie kämpfe. "In meinen Kolumnen wird es nicht die Reproduktion rechtsextremer Gedanken und Begriffe geben", sagt Marini?. Die Schriftstellerin ermuntert dazu, unermüdlich das Wort zu erheben und dem Hass entgegenzutreten. Mir wird wieder einmal deutlich: Es reicht nicht aus, sich nur zu empören. Eine Form der Care-Arbeit sei es, gegen Desinformation vorzugehen und das soziale Netz frei von Lügen zu halten, es stattdessen mit demokratiefördernden Inhalten zu bereichern. "Wir bauen die Zukunft von morgen", sagt Marini?.

"Wir sind alle Zukunftsgestalter" (Florence Gaub)

Die re:publica will Menschen aktivieren. Die meisten Menschen sähen die Zukunft Deutschlands zwar negativ, ihre eigene aber positiv, sagt die deutsch-französische Zukunftsforscherin Florence Gaub. Damit macht sie Hoffnung, denn: "Die Zukunft ist beeinflussbar". Sie sei das, was jeder von uns jetzt denke. Mensch zu sein bedeute auch immer, Entscheidungen zwischen Ungewissheiten, Visionen und Möglichkeiten zu treffen. Der Mensch hasse die Ungewissheit. Die Zukunftsforscherin macht klar: "Wir sind im Risikodenken und vergessen dabei, dass die Zukunft gut werden kann, wenn wir Energie hineinstecken".

Florence Gaub macht Mut, sich schließlich auf das zu konzentrieren, was man beeinflussen könne. Vor allem sollten wir keine Angst vor Überraschungen haben. Denn Menschsein hieße immer auch Veränderung. "Wir sind alle Zukunftsgestalter", die Zukunft liegt in meinen und auch in deinen Händen. "Zukunft ist das, was jetzt über die Zukunft gedacht wird - von jedem Einzelnen". In solchen Momenten ist die Magie der re:publica zu spüren. 

Große Kirche auf kleiner Bühne

Wo aber bleibt bei all dem die Religion? Nur eine von 1.000 Veranstaltungen beschäftigt sich mit den beiden großen Kirchen in Deutschland, wahrscheinlich auch noch auf einer der kleinsten Bühnen weiter draußen im Park und dann auch noch mit deren freiem Fall. Wo einen Tag zuvor noch in einer Meditation mit tiefen Atemzügen die Seele gestärkt wurde, sprach der Religionssoziologe Detlef Pollak vom Vertrauensverlust der Kirchen. In allen Ländern Europas sei die Zahl der Kirchenmitglieder zurückgegangen, auch in Ländern, die bisher als Hochburgen der Religion galten.

Dagegen würden das Ehrenamt und das Engagement der Kirchen, etwa im diakonischen Bereich oder in der Bildung, als wertvoll empfunden. In Dänemark etwa vergrößere die persönliche Unterstützung das Vertrauen in die Kirche teilweise sogar. Als Alleinstellungsmerkmal für die Kirchen bezeichnet Pollak Gottesdienste: Würden diese abgeschafft, dann bräuchte es gar keine Kirche mehr.

"Mentale Gesundheit" an Schulen unterrichten

In den verschiedenen Vorträgen und Workshops der re:publica gibt es viel nützliches Handwerkszeug, um die Anforderungen unserer Welt gesund zu meistern. Tanja Singer, soziale Neurowissenschaftlerin und Psychologin, weltweit bekannt für ihre Forschungen zu Empathie und Mitgefühl, will nicht verstehen, dass Sport ganz selbstverständlich auf dem Stundenplan der Schüler:innen steht, nicht aber das Fach "Mentale Gesundheit", und das in einer Zeit, in der Einsamkeit, Angst und Depressionen zunehmen. Der Individualismus unserer Gegenwart gehe in Narzissmus über.

Singer macht deutlich, dass wir lernen müssten, unsere Aufmerksamkeit wieder auf den Augenblick, auf das Jetzt zu richten. Das Gehirn könne trainiert werden, aufmerksamer, wacher zu werden, das Herz zu öffnen für das Gefühl der Dankbarkeit. Empathie fördern, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit stärken, Perspektivenübernahme und mehr Kooperation sowie mentale Gesundheit und Resilienz steigern sind Fähigkeiten, die Voraussetzungen für eine Demokratie seien.

Zur Meinungsbildung befähigen

Im Redaktionsalltag ist uns immer bewusst, dass Vertrauen das wichtigste Gut im Journalismus ist. Aber der Druck und Stress auf Journalist:innen wächst, was die Arbeitslast angeht, aber auch was die Anfeindungen und Kritik betrifft. Dazu gibt es mehrere Veranstaltungen. Die Mehrheit der Journalist:innen in Deutschland habe in letzter Zeit Beleidigungen im Internet und Herabwürdigungen ihrer Arbeit erlebt, informieren die Journalismusforscherinnen Prof. Dr. Wiebke Loosen und Anna von Garmissen, beide vom Leibniz-Institut für Medienforschung/Hand-Bredow-Institut in Hamburg, mit repräsentativen Daten in Deutschland. Beim Rollenselbstverständnis zeige sich, dass es Journalist:innen in Deutschland besonders wichtig sei, zuverlässige Informationen zu liefern, Desinformation zu bekämpfen und Menschen zur Meinungsbildung zu befähigen. Sie wollen gesellschaftliche Missstände beleuchten und unparteiisch zu beobachten.

Menschen erreichen, wie und wo sie sind

Dieser Satz ist nicht totzukriegen: Bad news are good news. Das galt rund 100 Jahre im Journalismus. Das sollte Aufmerksamkeit erzeugen. Das funktioniert heute nicht mehr. Wenn nämlich die schlechten Nachrichten zu viele werden und zudem Vertrauen schwindet, sei das ein Grund für die diagnostizierte Nachrichtenvermeidung, oft auch als Nachrichtenmüdigkeit bezeichnet, erklärt Journalistin Esra Karakaya. "Ist Nachrichtenvermeidung ein Zeichen von Müdigkeit?", ruft sie in den Saal. "Nein", antworten die Teilnehmenden energisch. Die diagnostizierte Nachrichtenmüdigkeit sei kein Problem der Konsumenten, sondern der Nachrichtenmacher. "Wenn überhaupt jemand müde sei, dann sind es wir Medienschaffende. Es wird höchste Zeit, wach zu werden", so Karakaya.

Die Menschen seien nach wie vor an Informationen interessiert. Sie informierten sich nur woanders. Auf WhatsApp, Telegram, Instagram, TikTok, in verschiedenen Sprachen, auf verschiedenen Kanälen, in verschiedenen Ländern. Vielleicht im Gespräch mit der Familie, vielleicht mit dem Kellner in der Shisha-Bar. "Sie kuratieren ihre Nachrichtenquellen und nehmen sich, was sie brauchen, und wir [Medienschaffende] sind dann beleidigt." Damit Medien zukunftsfähig werden, sollten Redaktionen divers aufgestellt sein. Die Journalistin ist gegen verkrustete Machtverhältnisse und will gegen diese mediale Entfremdung angehen, damit auch wirklich alle Menschen mit ihren Interessen erreicht werden könnten. "Innovation braucht einen Raum zum Leben, zum beweglich Sein, zum Atmen". Eine Lösung sieht sie im konstruktiven Journalismus, der nach Lösungen sucht, statt Negatives und Konflikte in den Mittelpunkt der Berichterstattung zu stellen.

Gegen Diskriminierung der KI vorgehen

"Digitalisierung erleichtert vieles, aber auch systematische Benachteiligung", kritisiert die unabhängige Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, Ferda Ataman. Künstliche Intelligenzen begleiten uns schon jetzt vielfach. KI sollte mit Bedacht eingesetzt werden und der Blick dafür geschärft werden, dass Programme mit künstlicher Intelligenz herrschende Diskriminierungen verstärken können. Wir sollten uns durch die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz nicht narzisstische gekränkt fühlen, sagt der Psychologe André Frank Zimpel, sondern vielmehr als Chance, sie als Unterstützung für die eigene Arbeit nutzen zu können. Chat GPT jedoch sei Durchschnitt und sage, was wir hören wollten, klärt Zimpel auf und hinterfragt: Was erkennen wir überhaupt als intelligent an und ist das überhaupt intelligent? Je besser KI werde, desto eher werde das Mittelmaß zum Maßstab.

Dadurch wachse der Meinung von Zimpel nach die Bedeutung von neurodivergenten Menschen, also Menschen mit anderen "atypischen neurologischen Vernetzungen", wie beispielsweise ADHS. "Wer sonst sollte als Gegengewicht die bedrohte Vielfacht verteidigen?", schließt Zimpel nach seinem Plädoyer für Vielfalt. 

Mut zum Widerspruch

Dann gibt es die Momente, in denen aus einer Diskriminierungserfahrung etwas Neues entsteht: sei es als Journalistin, deren Arbeit schlecht geredet wurde, sei es als Transfrau wie Content Creatorin Gazelle Vollhase, die von der eigenen Community angefeindet wurde und stärker aus dem Tief herauskam. "Es braucht Einspruch! Widerspruch! Gegen Hetze und Spott, der queeren Menschen widerfährt", fordert die Publizistin Carolin Emcke und ermutigt zu mutiger, leidenschaftlicher, lustvoller Intervention, um zu zeigen, was queeres Leben heute bedeutet. Denn nicht nur vom rechtsextremen Rand her nähmen Anfeindungen und Gewalt wieder zu, gerade auch aus der Mitte der Gesellschaft gebe es wieder diese Rede von den "Normalen" und den "Anderen", die nicht normal seien. Es sind Geschichten von mutigen Menschen und von Menschen, die Mut brauchen, um sie selbst sein zu können.

Auf der re:publica 2024 wird angeregt diskutiert und sich gefreut und getanzt.

Alle diese Bedürfnisse und Erkenntnisse sollen in den Wandel der gesellschaftlichen Transformation mit einfließen, um die Zukunft heute zu gestalten. Und wir werden wieder dazu ermuntert, wirklich Pause im Job zu machen und mit den Kolleg:innen zusammen zu essen. Auch das ist eine geäußerte Forderung auf der re:publica. 

Essen für das Gemeinwohl

"Lasst euch nicht mit Pizzapartys und Obstkörben verarschen, sondern engagiert euch für den Zugang zu ausreichend gesundem Essen", ermuntern die Soziologin Serap Yilmaz-Dreger und der Unternehmensberater Patrick Breitenbach im Gespräch und zeigen die soziologische Rolle des Essens im Kontext von Arbeit und Wirtschaft auf. Wenn regionale Produkte auf den Teller kommen und wir sie gemeinsam im Gespräch genießen, stärkt uns diese Auszeit für die Widrigkeiten des Alltags, tut etwas gegen den Raubbau an der Natur und wir fühlen uns weniger allein, sind sich die beiden sicher.

Die re:publica 2024 hat wieder die unterschiedlichsten Menschen zusammen und ins Gespräch gebracht. Das ist eine enorme intellektuelle Ressource. Bleibt natürlich noch die titelgebende Schlussfrage: wen kümmert’s? Die Antwort kann nur sein: uns alle. Wir kümmern uns. Für uns und für andere. Jetzt. Bitte.