Vier Uhr morgens in Bogotá: Während die Stadt noch unter einem kalten Nieselregen schläft, nippt Leonardo Sierra bereits an seinem zweiten Tinto. Seinen Kaffee trinkt Sierra am liebsten mit viel Zucker. Vor einer halben Stunde ist der Radioreporter in die Redaktion gekommen. Er hat sich seinen Kaffee geholt und den Polizeifunk der kolumbianischen Hauptstadt aufgedreht. Jetzt telefoniert er mit einem Informanten, trägt zusammen, was die Nacht über passiert ist: Ein Unfall, ein Raubüberfall und ein eingestürztes Hausdach – das ist die Bilanz, die er um halb fünf in den Morgennachrichten ziehen wird.
Leonardo Sierra ist 32 Jahre alt. Seit sechs Jahren arbeitet er als Reporter bei Caracol Radio, dem einflussreichsten Radiosender Kolumbiens. Sierra ist Lokaljournalist. Neben dem frühen Dienstbeginn heißt das vor allem eines: Tag für Tag durch die Stadt zu fahren, um vor Ort zu recherchieren, wie auch an diesem kalten Montag im Mai. Eine schwerbewaffnete Bande hat am Wochenende 22 Ausflügler in den Bergen am Rand der Stadt überfallen. Sierra will nachsehen, ob deshalb jetzt mehr Polizisten in dem Nationalpark patrouillieren. Kurz nach sechs ist er am Eingang des Parks auf Sendung.
Ein Journalist als Kriegsgefangener
"Wir sind hier gerade vor Ort mit einer Frühsportlerlin", sagt Sierra. Die mobile Sendestation im Auto überträgt das Signal live ins Studio: "Guten Morgen, Marcela. Herzlich Willkommen bei Caracol Radio. Wie sicher fühlen Sie sich denn, wenn Sie jetzt heute auf den Berg steigen?" Die Antwort ist eindeutig: Marcela fühlt sich nicht sicher. Normalerweise sei hier nie Polizei, sagt die Frau in Joggingklamotten.
Nach dem Interview will sich Sierra selbst ein Bild machen und steigt den kleinen Pfad hinauf zu einer kleinen Anhöhe, auf der eine Marienfigur steht. Aufgrund des Überfalls sind heute weniger Sportler unterwegs. Doch weil wegen des großen Medieninteresse auch die Polizei auf den Berg gestiegen ist, bleibt es ein ruhiger Einsatz. Gefährlich wird es für Sierra aber oft genug, denn nicht überall in der Acht-Millionen-Stadt sind Journalisten willkommen. Die Lage sei zwar besser als zur Hoch-Zeit der kolumbianischen Drogenkartelle Anfang der 1990er Jahre, sagt er. "Doch auch heute werden Journalisten bedroht und eingeschüchtert." Und im Extremfall verschleppt.
Seit zwei Wochen gibt es für die kolumbianischen Medien ein großes Thema. Die FARC, die älteste Guerillagruppe des Landes, hat den französischen Journalisten Roméo Langlois verschleppt. Weil er das Militär bei einem Einsatz gegen die Drogenküchen der Guerilla filmte, hat ihn die FARC als Kriegsgefangenen deklariert. Freilassen wollen sie den Journalisten nur, wenn es eine landesweite Diskussion gibt über die Rolle der Medien in dem seit Jahrzehnten andauernden Konflikt zwischen Regierung und Guerilla.
"Eine stumme Lokalpresse"
Doch während im Radio noch gestritten wird, unter welchen Bedingungen Roméo Langlois freikommen könnte, findet diese Diskussion längst statt. Allerdings nicht im Sinne der FARC. Ganz Kolumbien redet jetzt darüber, wie die Freiheit der Presse von den vielen bewaffneten Gruppen im Land eingeschränkt wird, sagt Jineth Bedoya: "Dass wir in den vergangenen Jahren nicht genug über den Konflikt in unserem Land berichtet haben," erklärt die Zeitungsreporterin, "daran sind auch die Medien selbst schuld." Weil die Guerilla so schwer zu erreichen sei, schicken die Medienhäuser ihre Reporter lieber mit dem Militär mit, als die Kosten für mehrtägige Reisen in den Dschungel zu übernehmen. "Genau damit machen sich die Journalisten aber zur Zielscheibe", sagt Bedoya, die selbst seit mehr als zehn Jahren über den Konflikt berichtet.
Die FARC, die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, haben sich in den 1960er Jahren als linke Guerilla gegründet. Damals bestand die Gruppe hauptsächlich aus Bauern, die sich gegen die Gewalt von Seiten der Großgrundbesitzer und des Militärs wehrten. Mit diesen Rebellen von früher haben die Kämpfer der FARC heute aber nicht mehr viel gemein. Die FARC gelten als terroristische Vereinigung, die sich durch Drogenhandel und Entführungen finanziert. Für Journalisten sind die dünn besiedelten Regionen, in denen sich die Guerillas aufhalten, besonders gefährlich.
Andrés Morales leitet die "Fundación para la Libertad de Prensa", eine Stiftung, die sich für die Pressefreiheit in Kolumbien einsetzt. Heute würden zwar weniger Journalisten ermordet, sagt Morales, die Arbeitsbedingungen hätten sich aber nicht wirklich verbessert: "Das Ergebnis ist eine stumme Lokalpresse, die sich nicht traut, Geschichten zu veröffentlichen, die eigentlich jeder hören sollte." Aus Angst vor gewalttätigen Übergriffen schweigen die Journalisten und behalten ihre Informationen für sich.
Bevor sie zum Opfer werden, zensieren sich Journalisten selbst
Im Jahr 2000 zählte Morales noch zehn ermordete Journalisten. 2011 wurde nur ein Journalist umgebracht. Die Reporter seien vorsichtiger geworden, meint Morales. Doch auch in diesem Jahr hat er bereits 26 Fälle massiver Einschüchterung dokumentiert. Vier Reporter mussten ihre Arbeit aufgeben, einer sogar aus seinem Heimatort fliehen. "Wir haben uns in den vergangenen Jahren außerdem daran gewöhnt, dass die Medien die Meinung der Regierung übernehmen, ohne sie zu hinterfragen," sagt Morales.
Journalisten geben wieder, was der Präsident sagt, was die Generäle denken und was die Soldaten von ihren Einsätzen berichten, kritisiert Morales. "Die Journalisten berufen sich lieber auf Regierungserklärungen, als die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen oder die Behauptungen einzuordnen." Am meisten treffe das auf Reporter zu, die in kleinen Städten arbeiten und kein großes Medienhaus im Rücken haben. Bevor sie zum Opfer werden, zensieren sich die Journalisten selbst.
Der Lokaleporter Leonardo Sierra hat früher auch auf dem Land gearbeitet. Heute berichtet er jeden Tag von den Straßen Bogotás, der größten Stadt Kolumbiens. Auch wenn Sierra dabei in gefährliche Situationen gerät: Systematisch bedroht wurde er hier noch nicht. "Die Journalisten auf dem Land leben mit den Leuten zusammen, über die sie berichten", sagt Sierra. Deshalb müssten sie sich jeden Tag genau überlegen, was sie schreiben. "Im Gegensatz dazu leben wir Journalisten in den großen Städten wie in einem Paradies." Aber auch in der Hauptstadt würden immer wieder Reporter eingeschüchtert, auch hier werde die Presse bedroht. So ernst die Entführung des französischen Journalisten Langlois auch sei, meint Sierra, wenigstens werde in Kolumbien jetzt wieder diskutiert: Darüber, was die Medien leisten sollen und über die Gefahren, denen Journalisten täglich ausgesetzt sind.