Bei der Jägerei gelten nicht nur andere Regeln, hier spricht man auch eine für Außenstehende weitgehend unverständliche eigene Sprache, die allerdings nicht mit Jägerlatein zu verwechseln ist; selbst wenn die Grenzen womöglich fließend sind. Schon allein diese Idee des Drehbuchduos Peer Klehmet und Klaus Wolfertstetter ist ein nahezu unerschöpflicher Quell vermeintlich tiefgründiger Weisheiten und entsprechender Humoresken: Anfangs versteht der aus Hamburg ins Wendland versetzte Hauptkommissar (Ulrich Noethen) nur Bahnhof, aber am Ende wirft er gleichfalls mit Aphorismen um sich ("Der Marder streift nicht weit vom Nest"), als habe er das "grüne Abitur" mit Bravour bestanden.
Diese Ebene des Films ist derart präsent, dass die Ermittlungen fast zur Nebensache werden: Auf einer Straße liegt ein totes Wildschwein, im Wald ganz in der Nähe ein toter Mann. Das Tier ist mit einem Auto kollidiert, aber der Fahrer ist zweifelsfrei ein Mordopfer. Weil das Schwein fachmännisch "mit der kalten Waffe abgefangen", also von seinem Leid erlöst worden ist, werden Stiller und Kira Engelmann (Bettina Burchard) umgehend bei Raik Kleinert (Sebastian Hülk) vorstellig.
Der Jäger hatte sich schon am Tatort ein Revierscharmützel mit dem Kommissar geliefert. Außerdem leitet er eine Jagdschule, was aus Sicht des Polizisten recht hochtrabend klingt: Für ihn handelt es sich bei den zukünftigen Jägern um Menschen, die Spaß am Töten haben. Verdächtig sind sie ohnehin, weil Kleinert sie in der Mordnacht allein in den Wald geschickt hat; einer hätte sogar ein Motiv. Eine zweite Ebene gilt dem Opfer: Der tote Kramers war zu Lebzeiten Bäcker, wenn auch vor allem aus Gründen der Familientradition. Die Witwe (Frida Lovisa Hamann) möchte die Bäckerei verkaufen, aber Patty Malchow (Angelina Häntsch), ohnehin die gute Seele des Betriebs, schlägt ihr vor, das Geschäft gemeinsam fortzuführen.
Und dann ist da ja noch die Sache mit dem titelgebenden roten Faden aus dem anheimelnd gefilmten Prolog: Die Kamera wandert eine rote Kordel entlang bis zu einem Kinderbett. Die Schnur ist um das Handgelenk eines kleinen Mädchens gebunden, das nun seinerseits der Kordel folgt und sich schließlich zu einer jungen Frau ins Bett kuschelt. Exakt in der Mitte des Films wiederholt sich diese Szene, aber jetzt ist das zweite Bett leer, und Krimifans werden ahnen, wer den Bäcker auf dem Gewissen hat; offen bleibt nur die Frage nach dem Warum.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Regie führte Bruno Grass, er hat auch den zweiten Film ("Stiller und das große Schweigen") der von Josef Rusnak erdachten Reihe inszeniert. Natürlich tummelt sich die Kamera (Tobias Schmidt) viel im Wald, der hier gar nicht bedrohlich wirkt, weshalb sich sogar der Kommissar mal zu einem "Waldbad" hinreißen lässt; dummerweise verliert er anschließend die Orientierung, verbringt eine ungemütliche Nacht und wirkt am nächsten Morgen angemessen zerzaust.
Es ist ohnehin eine große Freude, Ulrich Noethen dabei zuzuschauen, wie sich Stiller langsam, aber sicher nicht nur an die neue Umgebung, sondern auch an die Menschen im Wendland gewöhnt. Kollegin Kira stellt ihn sogar ihrem Vater (Torsten Michaelis) vor. Eigentlich will sie mit dem Alten nichts mehr zu tun haben, weil er ihre Ehe mit einer Frau missbilligt, aber sie braucht seinen Rat als passionierter Jäger.
Stillers Schriftstellerei sorgt für den Rahmen der Geschichte. Seine philosophische Einführung über das Streben des Menschen nach Ausgleich und Ordnung setzt nicht nur das Vorzeichen, sondern liefert auch den Schlüssel zur Lösung, wie sich später offenbart. Als Ordnungshüter trägt er natürlich seinen Teil zu diesem Streben bei, aber wie er das tut, ist jenseits der Geschichte allein wegen der Dialoge ein großes Vergnügen.
Noethen verkörpert den Kommissar, der das "Jagdzeugs" regelmäßig ironisch kommentiert, zwar nach der Devise "Weiche Schale, harter Kern", lässt ihn aber gewisse Schwächen zeigen, was die Figur sehr nahbar macht: Weil Stillers Vermieterin (Helene Grass) Tierärztin ist, bittet er sie, das Wildschwein zu obduzieren. Die Szene ist typisch für den Film: Einerseits ist es witzig, dass das Tier einen Namen braucht, damit der Polizist das Online-Formular korrekt ausfüllen kann ("Karl Keiler"), andererseits wird nun nicht nur ihm, sondern auch der leicht um ihre Längsachse kippenden Kamera etwas blümerant.