Die Zutaten zu dieser Geschichte bieten die perfekten Voraussetzungen für eine fesselnde Tragödie, zumal Rachefantasien und eine unerfüllte Liebe ebenfalls eine große Rolle spielen. Die tosende Urgewalt des Meeres, das unbarmherzig über das schutzlose Land hereinbricht, könnte den Film mit spektakulären Bildern zu einem denkwürdigen TV-"Event" abrunden. Trotzdem ist "Die Flut – Tod am Deich" aus verschiedenen Gründen nicht das erhoffte große Werk geworden. Uneingeschränkt sehenswert ist allerdings die Hauptdarstellerin.
Das Drehbuch (Daniela Baumgärtl, Constantin Lieb) basiert auf dem 2001 erschienenen Roman "Hauke Haiens Tod" von Andrea Paluch und Robert Habeck. Das erste gemeinsame literarische Werk des Ehepaars greift die Figuren aus Theodor Storms 1888 erschienener Novelle "Der Schimmelreiter" auf, überträgt die Handlung jedoch in die Gegenwart. Die Adaption beginnt mit der Flutkatastrophe, die den Deichgrafen und seine Frau das Leben gekostet hat. Ein junger Mann bringt ein kleines Kind in Sicherheit; beim Blick aus dem Autofenster sieht es einen Reiter auf dem Deich. Nach dem gleichermaßen fulminanten wie mystischen Prolog kommt der Film erst mal zur Ruhe.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
15 Jahre später erkennt die in einem Hamburger Kinderheim aufgewachsene Wienke (Philine Schmölzer) in einem TV-Bericht über einen verurteilten Türsteher die Stimme jenes Mannes, der sie einst gerettet hat. Sie sucht ihn auf und bittet ihn, gemeinsam in die frühere gemeinsame Heimat an der Nordsee zu fahren. Iven (Anton Spieker) hat dazu zwar überhaupt keine Lust, aber Wienke macht ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen kann. In dem friesischen Ort erwartet sie ausschließlich Feindseligkeit: Die Menschen wollen weder an die Katastrophe noch an ihren Anteil am Tod des Visionärs Hauke Haien erinnert werden; auf dem Hof von Wienkes Eltern, die Iven einst wie einen Sohn aufgenommen haben, hat sich der frühere Bürgermeister (Sascha Geršak) eingenistet. Iven war damals in dessen Tochter Ann-Grethe (Janina Stopper) verliebt, aber die hatte ihr Herz an einen anderen vergeben; ein weiteres von vielen düsteren Geheimnissen, auf die das ungleiche Paar im Verlauf dieser Reise in die Vergangenheit stößt.
Aus unerfindlichen Gründen waren Regisseur Andreas Prochaska und sein Hauptdarsteller der Meinung, sie würden Iven am ehesten gerecht werden, wenn sie ihn nahezu jeden Dialogsatz schreien lassen. "Du hast ein Aggressionsproblem", stellt Wienke irgendwann nüchtern fast, aber das ist nur die halbe Wahrheit: Iven hat ein Lautstärkeproblem. Gegen Ende, wenn Anton Spieker nicht die Stimmbänder, sondern den Körper sprechen lässt, ist seine Darstellung ungleich überzeugender. Das Gebrüll steht zudem in krassem Kontrast zu seiner nicht nur akustisch deutlich sparsamer agierenden Filmpartnerin: Philine Schmölzer, die ihre erste Rolle in einem ebenfalls von Prochaska inszenierten ORF-"Landkrimi" gespielt hat ("Wenn Du wüsstest, wie schön es hier ist", 2016), versieht die etwas spezielle junge Frau, die sich mit riesigen Kopfhörern vor dem Lärm der Welt schützt, scheinbar mühelos mit einer ausdrucksstarken Intensität. Auch Janina Stopper genügen Blicke, um zu vermitteln, welche Abgründe in Ann-Grethes Seele lauern.
Preiswürdig ist dagegen die Bildgestaltung (Felix Novo de Oliveira). Gerade bei den Innenaufnahmen ist das Licht ein Gedicht; einige Einstellungen von Himmel und Meer wirken wie Gemälde. Weder die vorzügliche Kameraarbeit noch die mit Detlev Buck und Franziska Weisz als Wienkes Eltern prominent besetzten Rückblenden können jedoch verhindern, dass dem Film zwischendurch die innere Spannung abhanden kommt. Die Zurückhaltung, die Spiekers Spiel gut getan hätte, macht sich bei der Musik (Karwan Marouf) negativ bemerkbar: Die Komposition hätte gern noch etwas dramatischer und sinfonischer sein können. Angesichts der beeindruckenden Filmografie Prochaskas sind diese Schwächen umso erstaunlicher: Der Wiener hat zuletzt mit Sohn Daniel den sehenswerten österreichischen Beitrag zur Fußball-Saga "Das Netz" ("Prometheus", 2022) und zuvor alle neun Filme der ZDF/ORF-Koproduktionsreihe "Spuren des Bösen" (2012 bis 2021) inszeniert. Sein Medical-Drama "Das Wunder von Kärnten" (2013) ist mit dem International Emmy Award gewürdigt worden, sein Heimatwestern "Das finstere Tal" hat 2014 gleich acht Deutsche Filmpreise bekommen.