Schon die ersten Bilder lassen zudem dank entsprechender Farbgebung und unheilvoller Musik nichts Gutes erwarten. Eine offenbar verängstigte Frau (Marlene Tanczik) eilt zu ihrem Auto, wähnt sich in Sicherheit, als sie die Tür schließt, und kann natürlich nicht ahnen, dass sie sich freiwillig in eine rollende Todesfalle begeben hat: Bei voller Fahrt verliert sie die Kontrolle über den Wagen, Lenkung und Bremsen funktionieren nicht mehr, das Auto rast in eine Baustelle.
Als sich später rausstellt, dass Anara Opfer einer Software-Manipulation geworden ist, hat ihr Mann umgehend einen Verdacht, wer dahinter stecken könnte. Max van Veeren (Klaus Steinbacher) arbeitet für ein Frankfurter IT-Unternehmen, das gerade einen fragwürdigen Deal aushandelt; es geht um eine Software, mit deren Hilfe der Emir von Dubai sein Volk perfekt überwachen könnte. Der Scheich ist zunächst nur mäßig interessiert, bis es Max auf clevere Weise gelingt, ihn für das Projekt zu begeistern. Mit diesem Schachzug wird er zum innerbetrieblichen Gegenspieler seines Partners Patrick Reitwald (Marcus Mittermeier): Ab jetzt konkurrieren beide um einen Vorstandsposten. Deshalb ist Max überzeugt, dass der Kollege für die digitale Manipulation des Autos verantwortlich ist: Der Wagen, mit dem Anara unterwegs war, gehörte Max.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Während der Ehemann nach der Wahrheit sucht, erinnert er sich an die schönen Momente. Aber Erinnerungen können trügerisch sein, und Rückblenden sind nicht immer wahrheitsgetreu, selbst wenn sie in verklärend schönes Licht getaucht sind. Auf diese Weise entwirft der Film das Psychogramm einer Beziehung, die wohl doch nicht so perfekt war, wie Max glaubt: Wie ein Ermittler auf der Suche nach Indizien sammelt der Film Details, die für immer mehr Risse in der Fassade eines Luxuslebens sorgen. Max findet raus, dass Anara, die nun im Koma liegt, offenbar ein Doppelleben geführt hat; seine Spurensuche führt ihn unter anderem in einen geheimnisvollen Club, zu dem nur ausgewählte Mitglieder Zutritt haben. Dort entdeckt er einen Mann, der ihm schon in der Klinik aufgefallen ist, und auch diese Spur führt schließlich zu Reitwald.
Marc O. Seng ist einer jener Autoren, deren Vorlagen grundsätzlich zu sehenswerten Produktionen führen. Zu den Serien, an denen er in den letzten Jahren maßgeblich beteiligt war, gehören "Dark" (2017-2020, Netflix), "Unbroken" (2021, ZDFneo) sowie zuletzt "Höllgrund" (2022, SWR). Seine Geschichten umweht oft ein Hauch von Mystery, außerdem treibt er gern ein Spiel mit dem Publikum, dem er nie die ganze Wahrheit offenbart. Bei Hannu Salonen ist der Stoff ohnehin in guten Händen. Der gebürtige Finne ist seit zwanzig Jahren ein Garant für hohes TV-Handwerk; "Arctic Circle" (ZDF) und "Oktoberfest 1900" (ARD) gehörten zu den besten Serien des Jahres 2020. Ein Merkmal seiner Arbeiten ist die vorzügliche Bildgestaltung. Kameramann Andreas Zickgraf hat für die gleiche hochwertige Optik gesorgt, die auch die von ihm fotografierten "Laim"-Krimis im ZDF prägt: "Blindspot" ist ein mit passender Musik (Iva Zabkar) unterlegter glitzernder Großstadt-Thriller.
Trotzdem ist es vor allem Salonens Arbeit mit dem Ensemble, die das Drama zu einem besonderen Film macht. Die Handlung wird bis zu Beginn des letzten Akts ausschließlich aus Sicht von Max erzählt, erst dann wechselt die Perspektive. Weil sich sein Blick auf die Menschen in seiner direkten Umgebung ständig ändert, können die Mitwirkenden, zu denen auch Felicitas Woll als weitere Kollegin gehört, verschiedene Seiten ihrer Figuren zeigen. Davon profitiert dank der kunstvoll eingebetteten Rückblenden vor allem Marlene Tanczik, deren Rolle ohnehin überraschend facettenreich ist. Dennoch steht und fällt das gesamte Projekt mit dem Hauptdarsteller. Klaus Steinbacher war bereits ein Besetzungsglücksfall als junger Franz Beckenbauer in der Sky-Produktion "Der Kaiser" (2022). In "Blindspot" stand er vor einer Herausforderung ganz anderer Art: Einerseits versieht er Max mit einer selbstbewussten Virilität, andererseits vermittelt er glaubhaft, wie der Mann langsam, aber sicher den Boden unter den Füßen verliert. "Was die Augen sehen, ist Wissen", zitiert Max zu Beginn ein arabisches Sprichwort, "was das Herz weiß, ist Gewissheit"; doch auch das Herz kann sich täuschen.