Hier eine Berührung, die etwas zu lange dauert, dort ein Foto, das nur scheinbar unverfänglich wirkt: Wenn es um Kinder geht, wird das Eis ganz schnell ganz dünn. Lehrer Krein meint es gut, das Wohl seiner dritten Klasse ist ihm eine Herzenssache, aber ist es nicht auffällig, dass er sich vor allem um die Mädchen kümmert? Als die kleine Inka erst vermisst und dann tot in einer Kleingartensiedlung gefunden wird, gehen plötzlich alle auf Distanz zu dem beliebten Kollegen; das ist der Anfang vom erschütternden Ende dieser tragischen Geschichte.
Das Titelzitat "Der Dicke liebt" ist unvollständig: "Der Dicke liebt Juli" hat jemand auf die Tafel geschrieben. Juli ist ein weiteres Mädchen aus Krens Klasse. Sascha Nathan verkörpert den stark übergewichtigen Pädagogen auf eine Weise, die einerseits Anteilnahme, andererseits umgehend Verdacht weckt. Der Mann ist alleinstehend, in seinem Wohnzimmer tummeln sich Dutzende von Kuscheltieren, und seine Beziehung zu Juli wirkt inniger, als sie sein sollte. Wie dieser scheinbar in sich ruhende Lehrer, dem Korpulenz und Sommerhitze beständig die Röte ins Gesicht treiben, mehr und mehr den Boden unter den Füßen verliert, ist eine auch körpersprachlich preiswürdige darstellerische Leistung.
Nathan ist somit eine exzellente Ergänzung der beiden eigentlichen Hauptfiguren dieses zweiten "Polizeirufs" aus Halle mit Peter Kurth und Peter Schneider. Je länger der Krimi dauert, desto bedrückender wird die Handlung. Dabei ist der Auftakt beinahe heiter, als Henry Koitzsch (Kurth) wegen Trunkenheit am Steuer seinen Führerschein verliert und sich anschließend mit einem Kollegen (Andreas Schröders) ein kleines Zitatduell liefert, bei dem Jack Londons autobiografischer Roman "König Alkohol" eine große Rolle spielt. Auch unter diesen Szenen liegt allerdings bereits eine Melancholie, die sich durch den ganzen Film zieht, zumal Koitzschs Partner Lehmann (Schneider), mehrfacher und tiefgläubiger Familienvater, eine Tochter im Alter der getöteten Inka hat.
Dass ihn der Kollege deshalb aus den Ermittlungen raushalten will, ist zwar gut gemeint, führt aber schließlich zu einem echten Krach, weil Lehmann die Alleingänge satt hat. Irgendwann steht Koitzsch auch bei Krein vor der Tür, nachdem die Befragungen der schon früher im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch aufgefallenen Straftäter ergebnislos geblieben sind, und natürlich muss ihm das Verhalten des Lehrers verdächtig erscheinen. Weitaus unsympathischer ist ihm jedoch der Mob, der sich vor Kreins Haus zusammengerottet hat; der Rädelsführer bekommt schmerzhaft zu spüren, was der Polizist von solchen Gestalten hält.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
"Der Dicke liebt" ist wie schon der erste "Polizeiruf" mit Kurth und Schneider ("An der Saale hellem Strande"), 2021 anlässlich des Jubiläums der 1971 gestarteten Reihe ausgestrahlt, eine weitere Zusammenarbeit von Thomas Stuber und Clemens Meyer. Zu den gemeinsamen Drehbüchern des Regisseurs aus Leipzig und des Schriftsteller aus Halle gehören unter anderem die jeweils mehrfach ausgezeichneten Dramen "Herbert" (2016, mit Kurth als Ex-Boxer) und "In den Gängen" (2018, ebenfalls mit Kurth). Stubers Filme zeichnen sich regelmäßig durch eine sympathische Unaufgeregtheit aus. Trotzdem ist "Der Dicke liebt" fesselnd; aber die Spannung ist eher subtiler Natur. Bei seiner Inszenierung hat der Regisseur sicht- und spürbar darauf geachtet, nicht den Hauch von Voyeurismus aufkommen zu lassen. Gleichzeitig wird deutlich, wie nahe der Fall selbst dem hartgesottenen Koitzsch geht, auch wenn Kurth das mit seinem stoischen Spiel bloß andeutet.
Für Schneider haben sich Stuber und Meyer etwas anderes ausgedacht: Lehmann hat mehrfach eine Art Vision von Inka, wie sie einsam auf der Schultreppe sitzt oder allein nach Hause geht. Das war offenbar öfter der Fall. Bei der Rekonstruktion des Heimwegs stoßen die beiden Ermittler auf eine weitere Spur, die zu Krein führt: Die Bilder einer Überwachungskamera des Einkaufszentrums, in dem er sich regelmäßig mit überzuckerten Lebensmitteln eindeckt, zeigen ihn als einzigen Erwachsenen in der Nähe des Mädchens. Auf die Lösung des Falls kommt Koitzsch jedoch erst durch ein Wiedersehen mit einem Kollegen von einst, bei dem Andreas Schmidt-Schaller noch mal in seine alte "Polizeiruf"-Rolle schlüpfen darf. Die Bildgestaltung, für die wie beim ersten Krimi mit Kurth und Schneider sowie bei Stubers DDR-Drama "Kruso" (2018, ARD) Nikolai Graevenitz verantwortlich war, sorgt für die passende Atmosphäre dieser düsteren Geschichte: Dank der fahlen Farben wirkt das sommerliche Halle regelrecht frostig.