Der Titel klingt rätselhaft; "Geborgtes Glück" wäre passender, aber natürlich auch beliebiger. Die Geschichte beginnt wie ein potenzieller Thriller: Eine Frau sucht mit ihrem knapp sechsjährigen Sohn Nathan im Baumarkt nach einem Ersatzteil fürs defekte Badezimmerwaschbecken, als der Junge plötzlich verschwindet. Mit wachsender Panik durchstreift sie das unübersichtliche Gewerbegebiet, bis der umtriebige Nathan endlich von einem jungen Ausländer zurückgebracht wird. Kurz drauf taucht der Mann bei Marta (Susanne Wolff) und ihrem Gatten Roland (Ulrich Matthes) auf. Sie ist Gynäkologin, Samir (Florist Bajgora) hat ihre Adresse über die Website der Klinik rausgefunden, in der sie arbeitet.
Da er über handwerkliches Geschick verfügt, kommt er dem in dieser Hinsicht eher überschaubar talentierten Roland gerade recht: Die Wasserleitungen im Bad sind marode, und weil sich die Reparaturen über längere Zeit erstrecken werden, quartiert er sich kurzerhand im Gartenhaus ein. Roland entgeht zwar nicht, dass der aus Albanien stammende Lohnarbeiter den Job vor allem wegen Marta angenommen hat, aber er hat keine Ahnung, was die beiden wirklich miteinander verbindet; seine Frau zunächst allerdings auch nicht.
"Der Feind im eigenen Haus" ist ein beliebtes Filmsujet. Im Thriller kommen die Eindringlinge von außen und terrorisieren eine unbescholtene Familie, im Horrorfilm sind sie schon da und hausen wahlweise im Keller, hinter dem Spiegel oder zwischen den Wänden. Diese Art von Spannung hatten Karin Kaçi (Buch) und Sebastian Ko (Regie) zwar nicht im Sinn, aber eine Parallele gibt es doch: Die Bedrohung erweist sich als erhebliche Belastungsprobe für das scheinbar perfekte Dasein des wohlsituierten Paars. Der deutlich ältere Roland ist dank eines Erbes recht vermögend. Kinder wollte er nie, aber er hat Nathan wie einen eigenen Sohn angenommen, als Marta ihm mit dem Jungen, angeblich das Ergebnis einer flüchtigen Begegnung, "zugelaufen" ist.
Der Ehemann ist in diesem schicksalsträchtigen unfreiwilligen jedoch Bund bloß der Dritte und zudem zu einer gewissen Passivität verurteilt. Er vermutet hinter dem Band zwischen Marta und Samir sexuelle Motive und wäre sogar bereit, eine Affäre hinzunehmen, wenn sie bloß bei ihm bliebe. Hätten Kaçi und Ko die Geschichte aus seiner Sicht erzählt, wäre "Geborgtes Weiß" vermutlich zur Tragödie eines lächerlichen Mannes geworden, zumal sich Roland, der gern den linksliberalen Systemkritiker gibt, schließlich als typischer Salonsozialist entpuppt. Als er Samir in ein Sakko steckt und ihn zu einem Empfang in einen mondänen Golfclub mitnimmt, wo sich der Albaner denkbar deplatziert fühlt, sagt auch Marta einen entlarvenden Satz: Er führe Samir vor wie den "Sarotti-Mohr". Gegen Ende lässt Roland keinen Zweifel mehr an seinem Weltbild: "Jeder hat seinen Platz", sagt er zu Samir, "und deiner ist am Ende der Tafel."
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Wirklich fesselnd ist "Geborgtes Weiß" auch wegen der ruhigen Erzählweise allerdings nicht. Der Film lebt vor allem von der Frage, worum es sich bei dem Geheimnis handelt, mit dem Samir Marta erpresst. Zunächst lässt er sich für sein Schweigen mit 30.000 Euro bezahlen, aber dann will er wohl mehr als bloß Geld. Das Drehbuch lässt ohnehin viele Fragen offen oder beschränkt sich auf Andeutungen. Immerhin verrät Kaçi, dass Marta im Auftrag einer Hilfsorganisation eine Weile in Albanien gearbeitet hat; dort hat sich auch Samirs Weg mit dem der Ärztin gekreuzt. Die Autorin hat zuletzt das Drehbuch zu "Der Fall Marianne Voss" (2024, ZDF) geschrieben, ein von Jörg Schüttauf vorzüglich gespieltes Ehedrama über einen brandenburgischen Ex-Bürgermeister, der als mutmaßlicher Mörder seiner Frau verhaftet wird. Eine ihrer bekanntesten früheren Arbeiten war "1000 Arten Regen zu beschreiben" (2018); in dem Kinofilm weigert sich ein junger Mann, sein Zimmer zu verlassen.
Regisseur Ko Sebastian Ko hat bislang vor allem Krimis gemacht. Seine ersten und gleich sehr bemerkenswerten Fernseharbeiten sind ab 2015 für den Kölner "Tatort" entstanden. Sein letzter Sonntagskrimi war ein ebenfalls sehenswerter "Tatort" aus Dortmund ("Cash", 2024). Zuvor hat er unter anderem fürs ZDF mit "Atemlos" (2020) einen herausragenden Thriller für die Reihe "Helen Dorn" und einen ähnlich dicht erzählten "Ostfrieslandkrimi" ("Ostfriesensühne", 2022) gedreht. "Geborgtes Weiß" ist zwar von ganz anderem Schlag als die Krimis, aber vorzüglich gespielt und vor allem fotografiert; die Bildgestaltung (Andreas Köhler) ist ausgesprochen kunstvoll.