Zart, zerbrechlich und trotzdem stabil: Ein rohes Vogelei ist gar nicht so empfindlich, wie man meint. Trotz seiner nur 0,4 Millimeter dünnen Schale ist es fast unmöglich, ein aufrecht gehaltenes Ei zwischen den Fingern einer Hand zu zerdrücken. Vielleicht ist es dieses Paradox von Fragilität und Stabilität, das Menschen seit jeher fasziniert. Die Stabilität komme von der rundlichen Form, die alle Kräfte gleichmäßig verteile, erklärt der Direktor des Gießener Mathematikums, Albrecht Beutelspacher, im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Die Rundheit ist das Entscheidende."
Es sei sogar möglich, sich als Erwachsener mit dem ganzen Körpergewicht auf einen geöffneten Karton roher Eier zu stellen, ohne dass diese kaputtgingen. "Das funktioniert", verspricht der Experte. Dabei müsse jedoch das Gewicht vorsichtig und gleichmäßig verteilt werden. Skeptiker könnten das Experiment im Freien machen und ein Tuch zwischen Eier und Fußsohle legen.
Die Berechnung einer universell gültigen Formel für solche dreidimensionalen Körper wie Eier hat Wissenschaftlern jahrhundertelang Kopfzerbrechen bereitet. Zwar scheine die annähernd ovale Form des Eis zunächst recht einfach zu sein, sagt Beutelspacher. Allerdings gebe es ganz unterschiedlich geformte Eier, die je nach Vogelart von fast rund bis ganz spitz reichten. Erst vor drei Jahren veröffentlichten Wissenschaftler aus der Ukraine und Großbritannien eine drei Zeilen lange Formel: Sie soll universell einsetzbar sein und jede in der Natur existierende Ei-Form berechnen.
"Es ist diese scheinbare Paradoxie, die Baumeister:innen seit jeher reizt."
Die gebogene Form inspiriert Architekt:innen schon immer als Vorbild für eine stabile Konstruktion von Brücken und Kuppeln, wie beispielsweise im Dom von Florenz. Das Ei stehe für Filigranes, habe aber gute statische Eigenschaften, erläutert Gabriele Renz von der Architektenkammer Baden-Württemberg: "Es ist diese scheinbare Paradoxie, die Baumeister:innen seit jeher reizt."
Zu eiförmigen Bauwerken gehört die Londoner City Hall, das Nationale Zentrum für Darstellende Künste in Peking oder das "Atom-Ei", der im Jahr 2000 stillgelegte Atomforschungsreaktor im bayerischen Garching. Als "Baum-Ei" wird ein 44 Meter hoher Turm im Nationalpark Bayerischer Wald bezeichnet.
Wie es sich in einem Ei wohnt, lässt sich etwa in Campingmobilen in der Form eines liegenden Eis oder in eiförmigen Hausbooten namens "WaterNest" erleben. Der "Egg-Chair", ein Sessel des dänischen Designers Arne Jacobsen, ist ein Möbelklassiker. Die Faszination gehe auch von der organischen Form aus, die "Schutz, Geborgenheit und Sicherheit versinnbildlicht", ist Renz überzeugt.
Solchen Schutz bieten Eier natürlich in erster Linie den Vogeljungen, die in ihnen heranwachsen, bis sie die Schale durchbrechen. Wie unterschiedlich Vogeleier sind, zeigt die mehr als 50.000 Exemplare umfassende Eiersammlung des Naturkundemuseums in Stuttgart: Ob einfarbig, bunt, glänzend oder matt, kugelrund, birnenförmig oder lang oval, entsprechen sie nicht immer dem klassischen Hühnerei.
"Der Kolibri legt die größten Eier"
Die Unterschiede hätten mit der Art der Bebrütung zu tun, erklärt Ornithologin Friederike Woog: Eier, die in Höhlen ausgebrütet würden, seien oft weiß. Farben dienten der Tarnung und seien wie die Form an die Bedürfnisse der Umgebung angepasst. Liege das Nest an einer Felsenklippe, hätten die Eier eine konische Form. Dadurch könnten etwa die Eier von Lummen, die an Steilküsten brüteten, nicht so leicht aus dem Nest fallen.
Die Expertin verrät auch, warum nicht der Strauß, sondern der Kolibri die größten Eier legt - zumindest relativ gesehen: Je schwerer ein Vogel ist, desto kleinere Eier lege er im Verhältnis zum Körpergewicht der Vogelmutter. So betrage beim afrikanischen Strauß das Gewicht des Eis ein Sechzigstel des Gewichts der Mutter, sagt Woog. Bei Haushühnern sei es das Verhältnis eins zu 25. Beim Kolibri wögen dagegen schon acht Eier so viel wie der Muttervogel.