Lektionen aus der Missbrauchs-Studie

Dunkler Kreuzgang mit Kontrovers Stempel
Jacob Bentzinger / Unsplah (M)
Wesentliche Hinweise auf mögliche Fälle sexueller Gewalt bleiben nach der ForuM-Studie weiterhin im Dunkeln.
Kolumne: Evangelisch Kontrovers
Lektionen aus der Missbrauchs-Studie
Nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie zu sexueller Gewalt in den evangelischen Kirchen ist es geboten, dass die Landeskirchen zügig die Personalakten auf mögliche Hinweise zu gegenwärtigen Gefährdern überprüfen lassen. Außerdem fragt sich unser Kolumnist Alexander Maßmann: Wie sehen die neueren Präventions-Vorkehrungen der Kirchen im Vergleich mit den Maßnahmen aus, die etwa die Kirche von England praktiziert?

In der evangelischen Kirche in Deutschland wird die ForuM-Studie zur sexualisierten Gewalt diskutiert. Sie verschafft Betroffenen Gehör und berechnet, dass wir von 2.225 Menschen wissen, die im Laufe von fast 80 Jahren in den evangelischen Kirchen von Gewalt betroffen waren. Dabei handelt es sich aber nur um "die Spitze der Spitze des Eisbergs". Welche unmittelbaren praktischen Konsequenzen sollen die Kirchen aus der Tatsache ziehen, dass die Studie nur einen Bruchteil der kirchlichen Personalakten einbeziehen konnte? Sie stellt ja die Gewalt noch nicht einmal in dem Ausmaß dar, welches man eigentlich kennen kann. Außerdem frage ich, wie es in Zukunft mit der Prävention bestellt sein soll. Dabei ziehe ich das Beispiel der Kirche von England heran.

"Die Spitze der Spitze des Eisbergs"

Tausende von Personalakten wurden nicht in die Forum-Studie einbezogen. Stattdessen beruht die Studie im quantitativen Teil fast nur auf Disziplinarakten – also denjenigen Unterlagen der Landeskirchen über Fälle, in denen eine Kirche offiziell einem Verdacht auf sexuelle Gewalt nachgeht. Die Personalakten enthalten dagegen wesentlich mehr Hinweise auf mögliche Fälle sexueller Gewalt, die nun weiterhin im Dunkel bleiben. 

Das gibt aus mehreren Gründen enttäuschend. Erstens wurde dem Forschungsteam zu Beginn der Arbeit ausdrücklich Zugang zu den Personalakten zugesichert. Zu diesem Zweck hat die EKD zweitens zunächst 2020 und dann 2021 ihr Datenschutzgesetz geändert. Drittens hat der Zugang zu den Personalakten in allen katholischen Diözesen funktioniert, als die MHG-Studie 2018 sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche darlegte. Bei den evangelischen Landeskirchen dagegen hat der Zugang zu den Personalakten in 19 von 20 Fällen nicht geklappt. 

Die Landeskirche, deren Personalakten analysiert werden konnten, ist relativ klein, und bei ihr erfuhr man von 60% der Beschuldigten nur durch die Personalakten, nicht durch die Disziplinarakten. Man hätte also insgesamt von wesentlich mehr Fällen sexualisierter Gewalt erfahren können. Und dann gibt es natürlich das Dunkelfeld der Fälle, die nirgends dokumentiert sind.

Schlamperei?

Die Kirchen waren zu langsam darin, die Personalakten für die Studie aufzuarbeiten. Woran liegt das? Vielleicht waren die Kirchen guten Willens, aber überfordert mit dieser Aufgabe. Vielleicht waren die Anforderungen der Forscher:innen zur Aufarbeitung der Daten nicht immer sachgemäß, so dass die kirchlichen Stellen weniger oder keine Schuld trifft. All das ist im Augenblick unklar. Möglich ist aber auch, dass manche kirchlichen Stellen nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, um die Forschenden über die Personalakten zu informieren. 

Denkbar ist auch, dass manche kirchlichen Stellen allgemein nicht sorgfältig genug mit den Personalakten umgehen. Das trifft zumindest auf manche Mitarbeitenden in der Vergangenheit zu, wie die Studie herausfand. In der Vergangenheit wurden manche sexuellen Vergehen nicht hinreichend zu Papier gebracht. Manchmal wurde die Dokumentation sexueller Vergehen aus dem Verkehr gezogen, so dass sie jetzt nur zufällig gefunden wurden. Wenn Pfarrer, die laut Disziplinarakten beschuldigt wurden, die Gemeinde wechselten, wurden die neuen Gemeinden anscheinend nur in einem Viertel der Fälle informiert. Ob es hier einen Trend zu mehr Mitteilungen gibt, geht aus der Studie nicht hervor. Dass einzelne Akten vernichtet wurden, kann man auch nicht ausschließen. 

Katharina Kracht, Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes und früher Mitglied des Betroffenenbeirats der EKD, sagte bei der offiziellen Präsentation der Studie sogar ausdrücklich: Die Schwierigkeiten mit den Personalakten der Kirchen bestätigen, "was wir Betroffenen seit dem Hearing bei der Aufarbeitungskommission 2018 mindestens sagen: Die Landeskirchen verhindern Aufarbeitung."

Prävention: Personalakten prüfen

Ich unterstelle niemandem in den kirchlichen Verwaltungen bösen Willen. Ein beteiligter Forscher hat betont, er und seine Kollegen seien an keiner Stelle auf Obstruktion gestoßen. Ich nehme an, dass kirchliche Stellen in der Regel gewissenhaft mit den Akten umgehen. Doch an einem sehr wichtigen – zugegeben: einem ehrgeizigen – Test ihres Umganges mit den Personalakten sind die evangelischen Kirchen klar gescheitert. Weil der ehrgeizige Test gescheitert ist, muss sich nun zeigen, ob die Verwaltungsapparate die Mindestanforderung erfüllen. Nun liegt die dringende Aufgabe wieder in der Prävention. Es ist nun zumindest denkbar, dass einzelne Stellen ihre Personalakten nicht energisch genug zur Prävention nutzen. 

Die Personalakten evangelischer Landeskirchen müssen jetzt von unabhängiger Stelle kritisch überprüft werden. Es könnten sich darin Hinweise finden, mit denen man noch in naher Zukunft sexuelle Gewalt verhindern kann. Es ist denkbar, dass dort dokumentierte Verdächtige noch in verantwortliche kirchliche Tätigkeiten eingebunden sind. Hier muss Klarheit her.

Verantwortungsdiffusion

Die Studie diagnostiziert eine "Verantwortungsdiffusion" in der evangelischen Kirche. Tatsächlich besteht ein deutliches Machtgefälle zwischen Pfarrern und Gemeindegliedern. Da sich die evangelischen Kirchen aber für relativ demokratisch halten, und da in "flachen Hierarchien" niemand besondere Macht hat, sollte auch kaum jemand eine besondere Machtfülle missbrauchen können. Einerseits sind laut dem egalitären Selbstverständnis der evangelischen Kirchen alle mitverantwortlich. Andererseits kann sich gerade deswegen das Gefühl breitmachen, dass niemand im Besonderen Verantwortung trägt. So auch im Kampf gegen sexualisierte Gewalt. Das ist ironisch, weil "Verantwortung" zu den Lieblingswörtern der evangelischen Ethik zählt. 

Präventionsrichtlinien

Vielleicht sprechen Theologen so viel von Verantwortung, weil man die Gefahr der Verantwortungsdiffusion ahnt. Hier hat die EKD angesetzt und 2019 eine Leitlinie zum Schutz vor sexueller Gewalt verabschiedet, die die Landeskirchen in geltendes Kirchenrecht überführt haben. Es soll eine Verantwortlichkeitslücke geschlossen werden. Träger kirchlicher Einrichtungen müssen Schutzkonzepte erstellen, und Fortbildungen sind verpflichtend. 

Umfrage

Die evangelische Kirche hat einiges unternommen, um besser mit sexualisierter Gewalt umzugehen. Stimmt inzwischen die Einstellung?

Auswahlmöglichkeiten

Hier folgen evangelische Kirchen dem Kurs, den etwa die Church of England vor einigen Jahren eingeschlagen hat. Die Kirche von England wurde in den letzten Jahrzehnten von schweren Missbrauchsskandalen erschüttert. In absoluten Zahlen gibt es dort weniger Betroffene als in den evangelischen Kirchen in Deutschland. Dass man in Deutschland die Verantwortlichkeitslücke so resolut schließt wie in der Kirche von England, zeichnet sich aber im Moment noch nicht ab. 

Kulturwandel

Laut Studie haben die deutschen Kirchen Schwierigkeiten, die seit ein paar Jahren vorgesehenen Präventionsmaßnahmen flächendeckend umzusetzen. Doch deutsche Kirchenvertreter:innen arbeiten an einem Kulturwandel. Das bedeutet, es sollen sich offizielle Prozeduren und Richtlinien ändern, aber auch Routinen, eingespielte Denkweisen und unbewusste Annahmen. In allen Verästelungen des Großunternehmens Kirche – ein ehrgeiziger Plan! In den sozialen Medien findet gerade ein kirchlicher Kommentar großen Zuspruch, laut dem eine Kirche keine Zukunft hat, in der Menschen nicht "sicher" sind. Die englische Kirche schreibt sich dagegen nicht eine "sichere Kirche" auf die Fahnen, sondern spricht vorsichtiger von einer "sichereren Kirche" .

Was Webseiten verraten

Schon an der Oberfläche zeigt sich ein Unterschied in den Herangehensweisen der deutschen evangelischen Kirchen und der Kirche von England. Ob man die Website der Church of England aufruft oder die Webseiten der 42 englischen Diözesen – oder die Internet-Präsenz vieler, vieler Ortsgemeinden: Fast immer ist "Safeguarding", Schutz vor sexualisierter Gewalt, einer der wenigen Haupt-Menüpunkte der Website. Unabhängig vom Tagesgeschehen findet man ihn auf Anhieb, ganz ohne Scrollen und Klicken. Dagegen sieht man das Thema sexualisierte Gewalt auf den Websites der 20 evangelischen Landeskirchen in Deutschland nie im Top Level, sondern nur unter den zahlreichen Unterpunkten des Hauptmenüs – manchmal nur zwischen "Energiesparen" und "Motorradarbeit". 

Als Teil der tagesaktuellen Einzelbeiträge springen auf den deutschen Websites oft Beiträge zu sexualisierter Gewalt durchaus ins Auge (Ausnahme: Bayern). Doch es ist zu befürchten: Sobald sich das Nachrichtenkarussell weiterdreht und die ForuM-Studie nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, werden diese Beiträge von anderen Themen verdrängt. Das Webdesign legt die Frage nahe: Zählt die persönliche Sicherheit zu den drei oder vier elementaren Top-Level-Interessen der Kirchen, so wie etwa das Stichwort "Glaube" im Hauptmenü?

Präventionsschulung

Wie steht es in der kirchlichen Praxis? Im Unterschied zur Kirche von England verlangen nicht alle deutschen Landeskirchen, dass Mitarbeitende wiederholt, regelmäßig ein aktuelles polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Immerhin schreiben deutsche Kirchen Fortbildungen vor: Wie erkennen wir zum Beispiel sexualisierte Gewalt, auch wenn Betroffene sie nicht aktiv melden? Was ist zu tun, wenn wir Hinweise auf Gewalt erhalten? Anscheinend bleibt es aber bei einer oder wenigen Schulungen. Viele Verantwortliche in Deutschland würden die Verpflichtung gewiss ausdehnen, wenn sie die Wahl hätten. In der Church of England dagegen sind kirchliche Mitarbeitende auf allen Ebenen zu regelmäßigen Schulungen verpflichtet. Für Mitarbeitende, die mit vulnerablen Personen wie Kindern zu tun haben, steht alle drei Jahre ein Kurs an. 

Auch in Deutschland kann es nicht bei wenigen Schulungen bleiben. Die ForuM-Studie fordert außerdem dazu auf, dass der Aufbau von Präventionskompetenz stärker in der Ausbildung fürs Pfarramt verankert wird. Dass ist notwendig: Laut Studie haben Mitarbeitende in den Ortsgemeinden Versuche von Betroffenen und ihren Angehörigen erstickt, geschehene Gewalt zu benennen und aufzuarbeiten. Oft halten kirchliche Mitarbeitende den offenen Konflikt zwischen Betroffenen und Gewalttätern nicht aus ("Kultur der Konfliktvermeidung"), und dann ist es am einfachsten, vorschnell von Vergebung und Versöhnung zu sprechen oder diejenigen moralisch zu delegitimieren, die die Beschwerden vorbringen, sie etwa als vertrauensunwürdig darzustellen ("Silencing"). Um solche tiefgreifenden, oft subtilen Mentalitätsprobleme anzugehen, reichen wenige sporadische Schulungen nicht aus.

Schutzkonzepte

Deutsche evangelische Kirchen schreiben ebenfalls die Erarbeitung von Schutzkonzepten und Risikoanalysen vor. Ist aber immer klar, wer hier gefragt ist? Richtlinien und Gesetze sprechen von "Trägern" und "Körperschaften". Wie vermeiden wir, dass sich hier erneut niemand verantwortlich fühlt? Und für welchen Kontext sind Schutzkonzepte zu erarbeiten – für Kirchengemeinde und Kindergarten ganz allgemein? Sexuelle Gewalt geschieht nicht im Allgemeinen, sondern in einem bestimmten Veranstaltungsformat. Plant eine englische Pfarrerin ein neues Veranstaltungsformat, muss sie schriftlich niederlegen: Wo und wie wäre es bei der Kinderbibelwoche am ehesten vorstellbar, dass jemand ein Kind belästigt, und was unternehmen wir dagegen? Was tun wir Mitarbeitenden, wenn ein Kind etwa auf der Toilette Hilfe benötigt? In Deutschland bleibt auch offen, ob jemand dafür sorgt, dass die Konzepte tatsächlich der konkreten Situation vor Ort angemessen sind und wechselnden Umständen angepasst werden (zum Beispiel: Ein Kind mit Behinderung stößt zur Kindergruppe hinzu). Und das beste Schutzkonzept ist sinnlos, wenn es nach ein paar Jahren im Aktenordner verstaubt.

Präventionskräfte vor Ort

In England kommen hier die "safeguarding officers" vor Ort ins Spiel. Die 20 deutschen Landeskirchen unterhalten in der Regel je ein zentrales Team zum Thema sexuelle Gewalt. Laut Studie bauen sie vereinzelt auch in Dekanaten oder Kirchenkreisen einen Stab auf, der sich mit sexualisierter Gewalt befasst. In der Church of England dagegen gibt es nicht nur in jeder der 42 Diözesen ein Team, das sich gegen sexuelle Gewalt richtet. In den einzelnen Ortsgemeinde müssen Presbyterium und Pfarrer:in eine Person im Ehrenamt gewinnen, die als Ansprechpartnerin zum Thema Prävention verantwortlich ist (für Gemeinden im ländlichen Raum sind Kooperationen möglich). Diese Gemeindemitglieder dienen nicht nur als Kontaktpersonen für Besorgte und Betroffene, sondern sichten nach Möglichkeit auch die Risikoanalysen und Präventionsansätze der Gemeinde. Es fragt sich natürlich, ob das immer gründlich geschieht. Doch oft übernehmen Eltern die Rolle des oder der Präventionsbeauftragten: Sie kennen die Sorge um die Sicherheit der Kinder und bringen eine eigene Motivation mit. 

Die Risikoanalyse soll ohnehin auch nicht-sexuelle Gefahren bedenken wie Verletzungsrisiken und medizinische Notwendigkeiten. Zu diskutieren wäre, in welchem Maße man die "Health and Safety Culture" auf deutsche Verhältnisse übertragen kann, die in Großbritannien manchmal übervorsichtig wirken kann. Doch die ForuM-Studie zeigt, dass deutsche Kirchen sich nicht zu viel, sondern zu wenig um sexuelle Sicherheit sorgen. Jedenfalls empfiehlt die Kirche von England, dass Pfarrpersonen und andere Mitarbeitende Risikoanalysen für Gemeindeveranstaltungen einmal pro Jahr gemeinsam mit anderen überprüfen, und hier zählen die "safeguarding officers" zu den ersten Ansprechpartnern.

Ausblick

Die ForuM-Studie legt nahe, dass die Personalakten in den Zentralen der Kirchen auf aktuelle potentielle Gewalttäter geprüft werden müssen. Darüber hinaus sind die Präventions-Leitlinien der EKD und ihre Umsetzung im Kirchenrecht ein guter Beginn. Von den Präventionspraktiken der englischen Kirchen ist man in Deutschland aber weit entfernt. Damit es zu dem erhofften Kulturwandel kommt, dürfte es auf lange Sicht erforderlich sein, dass zumindest in jedem Kirchenkreis ein kleines Präventionsteam in Tuchfühlung mit den einzelnen Kirchengemeinden bleibt. Darüber hinaus sollten wir Möglichkeiten und Chancen der Verantwortung Ehrenamtlicher in den einzelnen Gemeinden vor Ort diskutieren.

Für einen Kulturwandel darf es nicht bei vereinzelten Initiativen bleiben. Natürlich bedeutet konsequente Prävention einen immensen Zeitaufwand für Pfarrer:innen. Während sich die neuen Präventionsmaßnahmen etablieren und wachsen, wird auch der Widerstand gegen sie nicht ausbleiben. Und wie leicht ist es, neue Verpflichtungen zunächst anzunehmen, dann aber die Standards schleifen zu lassen! Deshalb muss man die guten, bestehenden Ansätze weiterhin diskutieren und verstärken. Wenn etwa die Präventionskonzepte es schon ins Kirchenrecht geschafft haben, dann müssen Gemeinden auch Mechanismen schaffen, die die stetige Umsetzung und Aktualität solcher Konzepte gewährleisten. Schlimmer als das Fehlen von Präventionsrichtlinien wären Richtlinien, die falsche Sicherheit versprechen, weil sie nicht umgesetzt werden.