"Die Menschen sehen die historischen Gefahren nicht"

Der Holocaust-Überlebende Peter Kenedi sitzt auf seinem Sofa.
© epd-bild/Sven Moschitz
Peter Kenedi überlebte als Kind das Getto Budapest. Er verlor während der Schoah einen Onkel. Er studierte in Ungarn Medizin und wurde Kardiologe. Er lebte ein Jahr lang in den USA, kam danach nach Deutschland und war Chefarzt in einem Frankfurter Krankenhaus. Zum Holocaust-Gedenktag spricht der heute 86-Jährige mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) darüber, was der terroristische Überfall der Hamas auf Israel verändert hat, welche Sorge ihm der Aufstieg rechtsnationaler Kräfte in Deutschland und weltweit bereitet und was man gegen ihn tun könnte. (Siehe epd-Gespräch vom 25.01.2024)
Holocaust-Überlebender
"Die Menschen sehen die historischen Gefahren nicht"
Zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus spricht der heute 86-Jährige Peter Kenedi darüber, was der terroristische Überfall der Hamas auf Israel verändert hat, welche Sorge ihm der Aufstieg rechtsnationaler Kräfte in Deutschland und weltweit bereitet und was man gegen ihn tun könnte.

Peter Kenedi überlebte als Kind das Getto Budapest. Er verlor während der Schoah einen Onkel. Noch in Ungarn studierte er Medizin und wurde Kardiologe. Ein Jahr lang lebte er in den USA, kam danach nach Deutschland und war Chefarzt in einem Frankfurter Krankenhaus. Zum Gedenktag am 27. Januar für die Opfer des Nationalsozialismus hat der Evangelische Pressedienst (epd) ein Interview mit dem heute 86-Jährigen geführt.

epd: Herr Kenedi, was haben sie gedacht, als sie von dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober erfahren haben?

Peter Kenedi: Ich war erschrocken und hatte Angst. Ich habe gute Freunde in Tel Aviv. Sie berichten mir von großen Ängsten. Es ist schwer, normal weiterzuleben, aber sie versuchen es. Der 7. Oktober hat die Welt verändert. Auch die Lage in Deutschland. Ich fühle mich nach wie vor gut und sicher hier. Aber die Reaktionen auf die Angriffe zeigen, dass sich etwas verändert hat. Die Medien und die Regierung stehen aufseiten Israels. Aber die Bevölkerung schweigt.

Glauben Sie, dass bezüglich der Haltung zu Israel etwas bei den Menschen ins Rutschen gerät?

Kenedi: Mich beunruhigen die propalästinensischen Demonstrationen oder die Proteste an Universitäten. Die Ursachen sind wohl multifaktoriell. Es gibt eine muslimische Seite an der neu sichtbaren Judenfeindlichkeit, es gibt eine rechtsextreme Seite, und es gibt eine linke Seite. Das bildet eine Mischung. Der Antisemitismus ist wesentlich stärker geworden seither. Im persönlichen Umgang merke ich das nicht, aber aus den Medien entnehme ich schon einen Stimmungsumschwung im Land.

Wie zeigt sich Ihnen dieser Umschwung?

Kenedi: Es gibt zwar viele Israel gegenüber wohlwollende Menschen in Deutschland. Aber ich habe den Eindruck, sie wollen den Nahostkonflikt wie so eine Art neutrale Beobachter, als Schiedsrichter sehen. Sie wollen keine Stellung beziehen. Sie sind ja auch nicht gezwungen dazu, also tun sie es auch nicht.

Was wünschen sie sich von der Gesellschaft?

Kenedi: Bei den Demonstrationen gegen Rechtsextremismus waren Hunderttausende auf den Straßen. Bei pro-israelischen Kundgebungen waren es oft nur zwei-, dreihundert. Ich als jüdischer Bürger vermisse positive Reaktionen, nicht nur bei Demonstrationen, sondern auch im täglichen Leben.

Bereitet Ihnen auch ein zunehmender Rechtsextremismus Sorgen?

Kenedi: Viele Leute sind enttäuscht von der Tagespolitik. Sie wollen sicher nicht Migranten vertreiben, aber trotzdem wählen sie AfD. Und mit den Demonstrationen alleine, auch wenn ich mich über sie gefreut habe, ist das Problem nicht gelöst. Ich glaube weiterhin, dass 70, 80 Prozent der Menschen in Deutschland die Demokratie erhalten wollen. Aber man muss nur an die Geschichte denken: Auch die Nazis hatten keine absolute Mehrheit. Man weiß nicht, wo die aktuelle Entwicklung noch hinführt. Je besser man sich in Geschichte auskennt, desto düsterer sieht man die Gegenwart. Aber das historische Bewusstsein schwindet.
Und dieses Jahr wird viel Neues ergeben, auch weltweit. Nicht nur bei uns wird gewählt. Die Hälfte der Weltbevölkerung, ob in den USA oder in Russland, wird 2024 wählen. In den USA könnte Donald Trump wieder Präsident werden. Man muss kein Arzt sein, um zu erkennen, dass bei Trump eine schwere Persönlichkeitsstörung vorliegt. Aber die Hälfte der Amerikaner könnte diesen gefährlichen Menschen wählen, der die ganze Welt verändern kann.

Macht auch das Ihnen Sorgen? Dass eine Wahlentscheidung Weichen stellen und ein Land grundlegend verändern kann?

Kenedi: Ja. Ich mag das Buch "The Plot Against America" von Philip Roth. Darin beschreibt er, wie die USA innerhalb von drei Jahren faschistisch werden. Das Buch ist natürlich zu großen Teilen fiktional, aber man sieht am Beispiel Ungarns, wie so etwas funktionieren kann. Viktor Orbán, der ja mal ein Linksliberaler war, fährt dort einen rechtsnationalen, europafeindlichen Kurs. Und nun rehabilitiert er den ungarischen Reichsverweser Miklós Horthy, der autoritär regiert hat und Gesetze gegen Juden erließ. Orbán geht regelmäßig nach Rumänien und hetzt die dort lebenden Ungarn auf. Ich habe ein schlechtes Gefühl und befürchte einen Rechtsruck in der Welt. Nicht nur als Jude. Ich sehe die Demokratie gefährdet, weil die Menschen die historischen Gefahren nicht sehen.

Was wünschen Sie sich, wie dagegen vorgegangen werden müsste?

Kenedi: Ich sehe viele Anstrengungen, die Bevölkerung wachzuhalten, auch seitens der Medien. Aber ob das reicht? Mir scheint, als ob viele Menschen die Welt nur noch in Schemata wahrnehmen. Und das ist auch ein Grund für zunehmenden Antisemitismus. Es ist ermutigend, dass aktuell so viele Menschen gegen rechts demonstrieren. Aber das bedeutet nicht, dass sie morgen nicht rechts wählen. Die demokratischen Kräfte müssten dagegen zusammenhalten und nicht nur ihre Parteiinteressen verfolgen. Die Demokratie lebt zwar davon, dass unterschiedliche Meinungen konkurrieren. Aber zu viel Streit ist kontraproduktiv.