Die beiden bilden ein derart gutes Team, dass schon jetzt angesichts der fürs nächste Jahr angekündigten Pensionierung Borowskis Wehmut aufkommt. Eigentlich könnte Mila Sahin im vierzigsten "Tatort" aus Kiel schon mal für die Zeit ohne den Partner üben, denn der Kollege hat Urlaub und ist mit dem Wohnmobil unterwegs, hat dabei aber nicht viel Freude, wie Buch und Regie gleich zu Beginn andeuten, als er auf den morgendlichen Espresso verzichten muss. Der Fall ist dagegen alles andere als witzig: Auf einem Parkplatz wird ein frisch geborenes totes Baby gefunden. Todesursache ist eine Schädelprellung, die entweder von einem Sturz oder einem Schlag herrührt.
Schon dieser Auftakt wird nicht allen gefallen, und wenn dann kurz drauf auch noch jene Musik erklingt, die angesichts des Titels zu erwarten ist, werden noch mehr Menschen die Lust auf diesen Krimi verlieren: Heavy Metal ist selbst für viele Hardrock-Fans nur schwer auszuhalten. Das Szenario dieses Films, mit dem Borowski sein zwanzigjähriges Dienstjubiläum feiert, ist allerdings interessant.
Weil die Spur nach Wacken führt, werden Mila Sahin und der Hauptkommissar mit gleich zwei fremden Welten konfrontiert, die jedes Jahr für wenige Tage miteinander verschmelzen: Hier die Beschaulichkeit des Dorfes in der Nähe von Itzehoe, dort die sogenannten Headbanger, die im Sommer zu Zigtausenden in die schleswig-holsteinische Provinz einfallen. Die Suche nach der Mutter des Babys beginnt wenige Tage vor dem Festival, der Film dokumentiert nebenbei die Vorbereitungen zum "Wacken Open Air", wenn sich der kleine Ort nach und nach ins Metal-Mekka verwandelt und selbst der brave Hofladen mit einer Totenkopfgirlande geschmückt wird.
Der eigentliche Reiz der Geschichte besteht im Austausch des LKA-Duos mit den Einheimischen, denen das Drehbuch allerlei Schicksale andichtet, und weil jeder jeden kennt, sind die Geschichten alle miteinander verbunden. Hier Bauer Stindt und seine hochschwangere Frau (Andreas Döhler, Anja Schneider), dort die Bestatterin (Bärbel Schwarz), die nebenbei Zimmer vermietet; und schließlich die ältliche Dorfpolizistin (Regine Hentschel), die sich mit ihrer schwarzen Uniform überraschend gut in die düstere musikalische Szenerie einfügt. Frau Jensen ist in der Tat Metal-Fan, aber weil ihr Vater Richard Wagner verehrte, trägt sie den nicht gänzlich unangebrachten Walküren-Vornamen Waltraute.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Während Borowski die Kollegin Jensen in die Ermittlungen einbezieht, hegt Sahin gegenüber Waltraute ein profundes Misstrauen, denn Jensen Junior könnte in den Fall verwickelt sein: Die verschwundene Mutter des Babys ist eine Frau aus Osteuropa; Lenny (Nicolas Dinkel), ein unbeweibter zotteliger Einsiedler, der einen Metal-Podcast betreibt, hat schon einmal eine Internet-Bekanntschaft aus dem Osten nach Wacken gelockt. Plausibler erscheint Borowski jedoch die These, dass der Seitensprung eines verheirateten Einheimischen nicht ohne Folgen geblieben ist. Womöglich hat ihn die Frau, die sich als Russin entpuppt und Christina heißt, mit dem Ergebnis der Affäre konfrontiert, es kam zum Streit, vielleicht zu einem Handgemenge; mit tödlichen Ende für das Baby jedenfalls, das als Frühchen mit angeborenem Hirnschaden allerdings ohnehin nicht lange zu leben gehabt hätte.
Mit seiner Theorie kommt der Kommissar der überraschenden Auflösung tatsächlich schon recht nahe, wie der Film weit vor dem Ende verrät, als sich herausstellt, in wessen Keller Christina (Irina Potapenko) gesperrt worden ist. Die Besetzung hat bereits erahnen lassen, wer in dieser Geschichte die tragische Figur ist. "Borowski und das unschuldige Kind von Wacken" ist ohnehin viel mehr Drama als Krimi, zumal die Inszenierung keinerlei Spannung aufkommen lässt; schon im ersten "Tatort" von Regisseurin Ay?e Polat, "Masken" (2021) aus Dortmund, waren die Befindlichkeiten des Teams wichtiger als die Mördersuche. Die österreichische Drehbuchautorin Agnes Pluch hat zuletzt zwei beachtliche Serien geschrieben, die sich jeweils um die "Macht der Kränkung" drehten, wie die Titelzusätze von "Am Anschlag" (2021) und "Am Ende" (2023) lauteten. Bei ihrem deutschen "Tatort"-Debüt geht es dagegen um Sehnsüchte und Träume, die an der Realität zerschellen.