Deutschland in einer nicht allzu fernen Zukunft: Das staatliche Schulsystem ist endgültig an seine Grenzen gestoßen. Die jugendliche Elite besucht Einrichtungen, die von der Wirtschaft gefördert werden. Auf diese Weise haben die Topkonzerne schon früh Zugriff auf die klügsten Köpfe und die Führungskräfte von morgen.
Die Ausbildungsplätze sind entsprechend begehrt, aber natürlich hat der Besuch dieser Kaderschmieden seinen Preis: Weil am Ende nur die Besten übernommen werden, herrscht von Anfang ein enormer Leistungs- und Konkurrenzdruck, dem nicht alle gewachsen sind. Von einer unbeschwerten Jugend kann ohnehin keine Rede sein.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Vor diesem Hintergrund erzählt Grimme-Preisträger Hans-Ullrich Krause ("Der Fall Bruckner") die Geschichte des elfjährigen Morin (Leo Alonso-Kallscheuer), der davon träumt, eines Tages zum Mars zu fliegen. Mit der bestandenen Aufnahmeprüfung an einer "Junior Academy" kommt er seinem Ziel einen großen Schritt näher; die Schule wird offenbar von einem Unternehmen aus der Luft- und Raumfahrtindustrie gefördert.
Schon beim ersten Test in einer virtuellen Realität zeichnet sich der Junge durch eigenständiges Denken aus, indem er kurzerhand die VR-Brille lüftet und so eine unkonventionelle Lösung für die gestellte Aufgabe findet. Früh zeichnet sich ab, dass es am Ende zum Zweikampf mit einer ähnlich hochbegabten Mitbewerberin kommen wird, aber da hat der Konzern längst entscheiden, wer das Duell gewinnen soll; und Morin erkennt, was wirklich wichtig ist im Leben.
Die Botschaft klingt pädagogisch, was nicht weiter überrascht, denn Krause ist Pädagoge; außerdem auch Mitglied der Geschäftsführung des Kinderhauses Berlin Mark Brandenburg und Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen. Zuletzt hat er das Drehbuch für "Kalt" (2022) geschrieben, ein Drama mit Franziska Hartmann als Erzieherin, deren Leben nach dem Verschwinden zweier Kinder in Scherben liegt.
Im Unterschied zur optischen Düsternis dort ist die Anmutung von "Morin" hell und freundlich. Tatsächlich gibt es zunächst auch keinen Grund für eine bedrohliche Bildsprache, selbst wenn der Auftakt eine andere Szenerie erwarten lässt: Die ersten Bilder zeigen die Erde aus dem All; der einstige blaue Planet leuchtet orange wie eine Apfelsine. Im Radio heißt es, die Lieferketten seien aufgrund von hitzebedingten Straßenschäden unterbrochen; die Lebensmittelversorgung in Deutschland sei jedoch nicht gefährdet. Außerdem fordere der Deutsche Gewerkschaftsbund Regelungen im Umgang mit künstlichen Intelligenzen. Als Morins Vater Steven (Frederic Linkemann) den Jungen an der Akademie absetzt, ist kurz eine Jahreszahl erkennbar: 2037.
"Morin" gehört zum Science-Fiction-Subgenre "Near Future". Der finanzielle Vorteil solcher Filme liegt auf der Hand: Technologisch mag sich innerhalb von 15 Jahren eine Menge ändern, aber die Ausstattungswelt muss nicht neu erfunden, sondern ebenso wie Kleidung und Frisuren bloß leicht modifiziert werden. Anders verhält es sich mit der Sprache: Dass die jungen Mitwirkenden Redewendungen wie "echt jetzt", "nice" oder "mega" verwenden, klingt allzu sehr nach Gegenwart. Ein deutlich größeres Manko sind jedoch die darstellerischen und dabei insbesondere die sprachlichen Leistungen.
Der Zauber jeder schauspielerischen Darbietung resultiert aus der Glaubwürdigkeit; dann kann selbst jemand ohne Abitur einen Nobelpreisträger verkörpern. Hier müssen die jugendlichen Ensemblemitglieder ständig Dialoge aufsagen, die mit Fachbegriffen gespickt sind. Dabei erwecken sie nicht immer den Eindruck, als ob sie wüssten, was sie von sich geben. Viele Sätze klingen zudem aufgesagt, was allerdings auch für einige der erwachsenen Ensemble-Mitglieder gilt (Regie: Almut Getto).
Trotzdem ist "Morin" insgesamt sehenswert, zumal gerade der Zukunftsentwurf mit seinen wie selbstverständlich in den Alltag integrierten Hologrammen stimmig wirkt. Morins Mentorin ist eine Künstliche Intelligenz namens Leona (Yodit Tarikwa), die rund um die Uhr darauf achtet, dass sein Tun und Streben ausschließlich der Akademie gilt. Steven beobachtet das mit Sorge. Mutter Katja (Marlene Morreis), eine karriereorientierte KI-Entwicklerin, weiß hingegen, dass man für seine Ziele Opfer bringen muss, zumal sie gerade ihrerseits von einer gleichermaßen ehrgeizigen wie skrupellosen jungen Kollegin überflügelt wird. Es ist ohnehin aller Ehren wert, dass sich der Bayerische Rundfunk eines solchen Themas annimmt; in dieser Form ist so ein Stoff in der Hauptsendezeit tatsächlich nur mittwochs im "Ersten" denkbar.