Lässt man den Auftaktfilm mit Joachim Król (1995) beiseite, hat sich an den grundsätzlichen Parametern seit 25 Jahren nichts geändert. Im Grunde haben die Figuren auch nur rudimentäre Entwicklungen durchgemacht. Trotzdem sorgt jeder Film für Überraschungen.
Großen Anteil am Erfolgsgeheimnis hat neben der Sorgfalt, mit der die Drehbücher gestaltet werden, die handwerkliche Umsetzung. Inszenierung, Bildgestaltung, Schnitt und Musik bewegen sich durchweg auf hohem Fernsehfilmniveau. "Treuetest" aus dem Jahr 2013 (Episode 38) ist zudem ein ausgezeichnetes Beispiel für die perfekte Balance zwischen Krimi und Komödie. Ein unverzichtbares Stilmittel der Reihe ist das retardierende Moment, etwa beim Bangen mit der Hauptfigur, wenn sich Privatdetektiv Wilsberg (Leonard Lansink) wieder mal unerlaubt irgendwo Zutritt verschafft hat und dank der spannungssteigernden Parallelmontage klar ist, dass er im nächsten Moment erwischt wird. Wunderbar ist beispielsweise die Idee, mit der das Finale eingeleitet wird: Wilsberg blättert in Fotos, so dass die Bildfolge ein Daumenkino ergibt, das die Identität des Täters offenbart; und der steht schon vor der Tür. Auch das Wechselspiel aus einerseits angekündigten, aber hinausgezögerten und andererseits überraschenden Gags beherrschen Buch (Arne Nolting, Jan Martin Scharf) und Regie (Dominic Müller) geradezu vorbildlich.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Aber das Beste sind die originellen Geschichten. Nach der Ermordung der hübschen Charlotte (Nele Kiper), die sich ihren Lebensunterhalt als Treuetesterin verdiente, stößt Wilsberg auf eine Gruppe geschiedener Männer (unter anderem Max Hopp und Felix Vörtler), die dem Lockvogel nicht widerstehen konnten; prompt reichten ihre Frauen die Scheidung ein. Kein Wunder, dass die Herren nicht sonderlich gut auf das Opfer zu sprechen waren. Außerdem stellt sich raus, dass Charlottes attraktive Partnerin Yasmin (Xenia Assenza) die Männer erpresst hat. Wilsbergs Auftraggeber ist diesmal Kumpel Ekki (Oliver Korittke): Seine neue Freundin (Nadja Becker) ist krankhaft eifersüchtig; Ekki war Charlottes letzter Kunde.
Parallel zu den Ermittlungen darf Overbeck (Roland Jankowsky) endlich seine Neigungen ausleben und als "under cover"-Ermittler agieren. Unter der Leitung von Kommissar Greinert (Wilfried Hochholdinger) soll ein Schutzgelderpresser überführt werden. Irgendwann scheint dieser Erzählstrang zu versanden, aber "Wilsberg"-Fans wissen, dass es in den Krimis aus Münster keine Zufälle gibt. Ohnehin beeindrucken die Drehbücher regelmäßig durch ihre Kunstfertigkeit, was die Verknüpfung von Handlungsebenen angeht: Alles hängt miteinander zusammen. Wenn also gleich zu Beginn Anwältin Alex (Ina Paule Klink) mit einem Kollegen (Roman Knižka) anbändelt, kann man davon ausgehen, dass der ebenfalls Dreck am Stecken hat, zumal er Scheidungsanwalt ist. Gut wie immer sind auch die Darsteller. Lansink mit seinem schiefen Grinsen und Korittke mit seiner Leidensmiene können mimisch ganze Dialoge ersetzen. Andererseits wird eine Figur wie der unbedarfte Overbeck bis an die Grenze zur Parodie auf die Spitze getrieben, und einige der wundersamen Begegnungen Wilsbergs haben fast Comedy-Charakter. Dass die Filme trotzdem in erster Linie Krimis sind, ist fast schon ein Kunststück.
Im Anschluss (21.45 Uhr) zeigt Neo "Gegen den Strom" (Episode 39). Das Titelwortspiel mag weder subtil noch wahnsinnig originell sein, aber einen gewissen Witz hat es doch: Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Mann, der sich gegen den örtlichen Energielieferanten wehrt. Damit ist jetzt allerdings Schluss, denn der Mann ist tot, und somit scheint der Weg für die Kraftwerke Münster frei. Aber zum Glück gibt es da ja noch diesen zerknautschen Privatdetektiv, der eigentlich ein Antiquariat führt und noch eigentlicher Jurist ist; und weil sein bester Freund Ekki als Steuerfahnder fürs Finanzamt arbeitet, öffnen sich den beiden Türen, die ausgerechnet Ekkis Chef lieber geschlossen sähe, denn mit dem mächtigen Energieunternehmen will er sich eigentlich nicht anlegen.
Wie beinahe immer in den "Wilsberg"-Krimis ergibt sich der Kriminalfall erst über einen Umweg, denn die Geschichte beginnt mit einer Erbschaft: Irgendwo vor den Toren der Stadt hat Ekki das Haus einer Großtante geerbt. Als Kind hat er in dem Ort regelmäßig die Ferien verbracht, aber die Gefühle, mit denen er an diese Zeit zurückdenkt, sind durchaus gemischter Natur. Das Haus ist ohnehin ziemlich heruntergekommen, und die Leiche, die er und Wilsberg finden, trägt nicht dazu bei, die Stimmung zu heben; zumal Nachbarin Ulla (Eva Löbau) die beiden am Tatort überrascht, sie prompt für die Mörder hält und umgehend die Polizei alarmiert. Spätestens mit dem Auftauchen des Dorfsheriffs (Rolf Kanies) nimmt der Krimi dann die gewohnt skurrilen Züge an, zumal Regisseur Michael Schneider die Handlung mehr und mehr mit Western-Elementen ergänzt. Neben den liebevoll entworfenen Figuren, allen die von Eva Löbau ganz wunderbar verkörperte hinkende Nachbarin, erfreut "Gegen den Strom" auch mit diversen amüsanten Inszenierungselementen, wenn Jankowsky wieder mal für eine Slapstick-Einlage sorgt oder wenn sich Schneider schamlos beim Horrorfilm bedient, um ein bisschen Schrecken zu verbreiten.