Gerade die Musik sorgt im Zusammenspiel mit dem Schnitt regelmäßig für Gänsehaut am ganzen Körper. Zartbesaitete Gemüter dürften sich "Was wir fürchten" ohnehin nicht antun, aber falls doch, werden sie beim Einschlafen womöglich lieber das Licht anlassen. "Ich sehe schreckliche Dinge", warnt die junge Hauptfigur gleich zu Beginn. Sie erlebt diese Ereignisse wie einen Traum, der sich auf fatale Weise echt anfühlt. Dass es sich keineswegs nur um Nachtmahre handelt, belegen die Spuren, die sie an ihrem Körper hinterlassen. Oder ist das alles doch bloß Einbildung? Immerhin leidet Lisa (Mina-Giselle Rüffer) an einer dissoziativen Bewusstseinstörung und nimmt Tabletten, um die Symptome einzudämmen. Seit sie mit ihrer Mutter Franka (Marie Leuenberger) von Stuttgart in eine Provinzkleinstadt gezogen ist, wird sie regelmäßig von grausigen Erscheinungen heimgesucht. Die Frage, ob es sich um Wahn oder Wirklichkeit handelt, macht einen großen Reiz der sechs Folgen aus.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die zweite zentrale Ebene ist weniger spektakulär: Der 17jährige Simon (Paul Ahrens) fühlt sich zu Männern hingezogen; das ist für seinen Vater, einen fundamentalistisch eingestellten Priester (Peter Jordan), ein erhebliches Problem. Er schickt ihn daher zu einem Seminar, das ihn von der vermeintlichen Krankheit kurieren soll. Die Überschneidung zwischen den beiden Handlungssträngen lässt sich zwar erahnen, als sich Lisa in den Mitschüler Leon (Alessandro Schuster) verliebt, und die bizarren Konversionsmethoden des von Christopher Schärf mit einer unangenehm glaubwürdigen Mischung aus Sanftmut und Überzeugung versehenen Therapeuten zeichnen sich durch einen gewissen Unterhaltungsfaktor aus, aber das ändert nichts daran, dass dieser Teil der Serie viel zu ausführlich ist. Als das Drehbuch (Chefautorin: Judith Angerbauer) schließlich offenbart, wie die Ebenen tatsächlich miteinander zusammenhängen, ist der Knüller allerdings genauso wirkungsvoll wie die vielen Schockmomente, bei denen die Musik (Anna Kühlein) wie ein Messer ins Trommelfell sticht.
Die jugendlichen Mitwirkenden sind ausnahmslos gut geführt, allen voran Mina-Giselle Rüffer, die für ihre herausragende Darstellung in der fünften Staffel der Webserie "Druck" (2021) mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden ist und hier nicht zuletzt durch ihre Wandlungsfähigkeit imponiert. Ähnlich eindrucksvoll sind Paul Ahrens, der die Hin- und Hergerissenheit wie auch die jugendliche Verwirrung Simons sehr nachvollziehbar verkörpert, sowie Alessandro Schuster: Leon musste mitansehen, wie seine Freundin während eines Amoklaufs an der Schule getötet wurde. Lisa und ihre Mutter, die auf eine LKA-Karriere verzichtet, damit das Mädchen in neuer Umgebung zur Ruhe kommt, treffen pünktlich zum Gedenktag in Großstetten ein und können selbstredend nicht ahnen, wie sehr die exakt ein Jahr zurückliegenden Morde ihr Leben beeinflussen werden. Der Amokläufer ist damals von einem Polizisten (Jürg Plüss) erschossen worden. Als sich sein offenbar verwirrter ehemaliger Kollege, der ebenfalls am Tatort war, spektakulär das Leben nimmt, schwant Franka: "Irgendwas stimmt hier nicht"; der Schlüsselsatz aller Mystery-Krimis. Tatsächlich haben sich die Dinge ganz anders abgespielt als im offiziellen Bericht beschrieben.
Lisa wiederum erkennt, dass ihre schaurigen Visionen kein Fluch, sondern eine Begabung sind; die unheimlichen Begegnungen entpuppen sich als Hilferuf verlorener Seelen. Davon kann zunächst allerdings keine Rede sein, wenn sie von unsichtbaren Mächten vom Rad gerissen wird oder eine verweste Hand aus dem Spiegel nach ihr greift. Regisseur Daniel Rübesam und Kameramann Roland Stuprich setzen ohnehin immer wieder sehr prägnante Akzente. Einige wie etwa das flackernde Neonlicht als Vorbote von Unheil sind schlicht, aber effektiv, andere wirken weitaus aufwändiger, wenn Lisa beispielsweise, von der Kamera umkreist, während einer Schulparty gedankenverloren inmitten der Menge tanzt und plötzlich für einen Moment völlig allein auf der Tanzfläche ist. Die Liebe zum optischen Detail zeigt sich schon bei der Titelgestaltung, als "Was wir" verschwindet und nur noch "fürchten" stehen bleibt. ZDFneo zeigt alle Folgen hintereinander, die Serie steht bereits komplett in der ZDF-Mediathek.