Diakoniechef Lilie: Soziales Netz vor Zerreißprobe

Portrait des Diakoniechef Ulrich Lilie im Gespräch
epd-bild/Hans Scherhaufer
Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, sieht in den Kürzungen im Sozialbereich einen weiteren Schritt in eine "echte Versorgungskatastrophe."
Kürzungen im Sozialbereich
Diakoniechef Lilie: Soziales Netz vor Zerreißprobe
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie kündigt Widerstand gegen die Sparpläne der Bundesregierung im Sozialbereich an. Gegen "Kürzungen mit der Heckenschere" im Bundeshaushalt werde die Branche "richtig Rabatz machen", sagt er im Interview. Lilie steht seit Juli 2014 an der Spitze des evangelischen Bundesverbandes und geht zum Jahreswechsel mit 66 Jahren in den Ruhestand.

epd: Herr Lilie, zum ersten Mal seit Jahren soll im Sozialhaushalt wieder gespart werden. Die Wohlfahrtsverbände werfen der Ampel-Koalition vor, dabei besonders unklug vorzugehen. Warum?

Ulrich Lilie: In einzelnen Bereichen kommen wir in eine dramatisch schwierige Situation. Beispiel Migrationspolitik: Dass ausgerechnet jetzt die Mittel für die Migrationsberatung, für Migrationsfachdienste beschnitten werden, kann man niemandem erklären. Erst recht nicht den Leuten, die diese Arbeit machen und an ihrer Leistungsgrenze sind, weil die Zahlen durch die Decke gehen. Das ist einfach widersinnig.

Genauso widersinnig ist es, ein Drittel der Mittel für die Freiwilligendienste zu streichen, wenn gerade alle über den Zusammenhalt in dieser Gesellschaft diskutieren - und etliche, wie etwa der Bundespräsident, auch über ein soziales Pflichtjahr. Dazu kommt: Die Freiwilligendienste helfen in doppelter Hinsicht gegen den gravierenden Personalmangel. Wir wissen, dass ein hoher Prozentsatz der Menschen, die sich in ihrer Jugend freiwillig sozial engagieren, später einen sozialen oder einen Gesundheitsberuf wählen.

"Die Regierung hat auf die Herausforderung Pflege bisher keine Antwort"

Natürlich müssen wir auch im sozialen Bereich Kürzungen hinnehmen - aber bitte nicht mit der Heckenschere. Vielmehr müssen wir alles dafür tun, dass das Gefühl bei vielen erschöpften Mitarbeitenden wie den Menschen - "Um uns kümmert sich keiner" - nicht stärker wird.

Über den Bundeshaushalt für 2024 entscheidet der Bundestag im November. Haben Sie die Hoffnung, dass die Kürzungen abgemildert werden?

Lilie: Ich hoffe, dass die Einsicht noch wächst. Sonst werden wir zusammen mit anderen Wohlfahrtsverbänden richtig Rabatz machen. Wir sehen mit großer Sorge, dass das soziale Netz und der soziale Zusammenhalt vor Zerreißproben stehen.

Die bisherige Regierungszeit der Ampel-Koalition ist geprägt von internationalen Krisen. Wenn Sie aufs Inland schauen: Was sind aus Sicht eines Diakonie-Chefs die wichtigsten Themen?

Lilie: Es ist schon ein gravierender Politikausfall, dass diese Regierung auf die große Herausforderung Pflege bis jetzt keine befriedigende Antwort gefunden hat. Herr Lauterbach macht derweil Politik mit Talk, Pflaster und Symbol. Wir laufen aber gerade in eine echte Versorgungskatastrophe. Wir erleben landauf, landab, dass Einrichtungen zumachen, weil sie kein Personal haben oder weil die Kostenträger ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen.

"Menschen in Not suchen zuerst einen sicheren Ort. Wenige kommen wegen der Sozialleistungen""

Dazu kommt der Fachkräftemangel. Unsere Beschäftigten - wunderbare Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - haben noch die Corona-Zeit in den Knochen. Es ist eine enorme Belastung, unter der das Gesundheits- wie das Pflegesystem stehen. Da kann man die Monate zählen, bis wir wirklich gravierende Probleme haben werden.

Muss die Diakonie Einrichtungen schließen?

Lilie: Noch nicht, aber viele stoppen Planungen und müssen bereits ihre Angebote begrenzen. Wir bekommen Alarmmeldungen von ambulanten Diensten. Sie können die Einsätze nicht mehr flächendeckend gewährleisten. Sie können keine neuen Pflegebedürftigen annehmen. Heime müssen Stationen schließen oder eine Tagespflege an einen anderen Ort verlegen. Das ist schlecht.

Auch für die Pflegebedürftigen steigen die Belastungen weiter. Wir haben in Nordrhein-Westfalen jetzt einen Satz für den Eigenanteil in der stationären Pflege bei durchschnittlich 2.700 bis 2.800 Euro. Die Durchschnittsrente beträgt 1.500 bis 1.600 Euro. Das ist ein riesiges Problem, auch für die Kommunen, die über die Sozialhilfe diese Kosten übernehmen müssen. Klamme Kommunen können nicht zahlen. Ich kenne Träger, die warten seit acht oder zwölf Monaten auf die ihnen zustehenden Zahlungen. Auf all das braucht es eine politische Antwort!

Welche?

Lilie: Wir werden Steuerzuschüsse für die Pflege brauchen. Wir brauchen eine neue Systematik in der Finanzierung der Pflegeversicherung. Der Gesundheitsminister stellt sich dem Problem nicht. Kurzfristig hilft eine konzertierte Aktion. Wir haben es hier mit den Folgen jahrelang nicht getroffener Entscheidungen zu tun. Wir wissen doch, was nötig ist: Pflege muss bezahlbar bleiben, die Arbeit in der Pflege muss attraktiv, die Kommunen müssen handlungsfähig sein.

Bei den jüngsten Landtagswahlen haben wir gesehen, dass Wahlen derzeit auch vom Thema Migration entschieden werden. Müssen die Flüchtlingszahlen runter, wie der Kanzler es formuliert?

Lilie: Wir müssen die Zahlen begrenzen. Darüber muss man auch diskutieren, wenn man das Recht auf Asyl und das Recht auf subsidiären Schutz dauerhaft sichern will.

Glauben Sie, dass weniger Menschen kommen, wenn Deutschland die Regeln für ihren Aufenthalt hier verschärft?

Lilie: Das glaube ich nicht. Wir wissen aus der Migrationsforschung, dass die verfolgten Menschen in Not zuerst einen sicheren Ort suchen. Evidenzbasierte Untersuchungen haben längst gezeigt, dass relativ wenige Menschen kommen, um Sozialleistungen zu erhalten. Die Frage ist: Mit welchen Instrumenten reagiert man?

"Die Koalition hat in den ersten zwei Jahren einiges geschafft"

Mit Sach- statt Geldleistungen schafft man viel mehr Bürokratie. Darin sind wir gut in Deutschland - statt dass wir professionellen Pragmatismus in die Debatte bekommen. Wir appellieren mit vielen Fachleuten seit Jahren an die Politik, dass Menschen, die hier absehbar auf längere Zeit Schutz genießen, so schnell wie möglich in Arbeitsprozesse integriert werden sollen. Gott sei Dank kommt da jetzt Bewegung rein.

Sollte es eine Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit geben? Die Menschen würden dann ja auch in Ihren Einrichtungen beschäftigt werden.

Lilie: Eine Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit hat etwas von einem Zwangsdienst. Wenn man Menschen in Arbeit bringen will, kann freiwilliges Engagement durchaus ein Weg sein. Aber das Ziel muss immer die rasche Integration in den Arbeitsmarkt sein. Alles, was wir nicht rechtzeitig tun, kostet uns nachher das Doppelte und Dreifache: Dadurch, dass Menschen sich dann eben selbst organisieren, desintegrieren und Parallelgesellschaften entstehen. Integration ist ein Marathonlauf. Aktionismus und Symbole werden uns hier sicher nicht zu besseren Ergebnissen führen.

Sie haben jetzt fast zehn Jahre die Berliner Politik aus der Nähe beobachtet. Was trauen Sie der Ampel zu?

Lilie: Diese Koalition hat sich viel vorgenommen. Man muss auch sagen, sie hat in den ersten zwei Jahren trotz dieser wahnsinnigen Belastungen einiges geschafft: Dass wir so durch den vergangenen Winter gekommen sind, dass wir keine einschneidenden sozialen Verwerfungen erlebt haben, ist sehr verdienstvoll.

"Wir müssen Dinge, einfacher, schneller und zielgerichteter machen"

Aber ich habe häufiger vermisst, dass die Politik den Austausch sucht - mit der Zivilgesellschaft, den Wohlfahrtsverbänden, mit der Wirtschaft und gute Vorschläge aufnimmt. Wir haben mit dem Thema Heizen und Energie ein schlechtes Beispiel für das Herangehen an die ganz großen Herausforderungen der sozial-ökologischen Transformation erlebt. Da haben einige Spezialisten und Überzeugungstäterinnen in guter Absicht einen erheblichen politischen Schaden angerichtet.

Wir brauchen eine neue Haltung und eine kohärentere Politik - jetzt hört man vom Deutschlandpakt und Anti-Bürokratiegipfel, das geht in die richtige Richtung. Wir müssen viele Dinge schneller, einfacher und zielgerichteter machen.

Werden Sie sich weiter engagieren? Haben Sie Pläne für Ihren Ruhestand?

Lilie: Erstmal gehe ich ein paar Monate ins Abklingbecken. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass ich nur Rosen züchte. Ich werde mich weiter engagieren für die Dinge, die mir wichtig sind. Aber zunächst einmal mehr Zeit zu haben für meine Frau, für Freundinnen und Freunde und die Dinge, die es im Leben sonst noch gibt - das ist schon etwas, auf das ich mich freue.