Ist der Hype um die KI schon vorbei?

Jan Eggers als Einhorn
© privat
Zum Thema Künstliche Intelligenz zeichnet sich bei vielen Journalistinnen und Journalisten ein Gefühl ab: Ernüchterung über KI. Nicht so bei unserem Autor Jan Eggers.
ChatGPT im Journalismus
Ist der Hype um die KI schon vorbei?
Im Sommer dieses Jahres brachen die Nutzerzahlen bei ChatGPT überraschend ein. Noch nicht mal ein Jahr nach dem Start schien die Text-KI ihre Zukunft hinter sich zu haben – und Medien wie das US-Netzmagazin "Vox" titelten: "Is the AI boom already over?"  – ist der KI-Boom schon vorbei? Ach wo!

Eine alte Journalisten-Regel besagt, dass wir Überschriften, die mit einem Fragezeichen enden, mit "Nein" beantworten sollten – und tatsächlich gibt es auch für den Einbruch bei der ChatGPT-Nutzung eine überraschend einfache Erklärung; dazu gegen Ende mehr. Aber die Schlagzeile bildete gerade bei vielen Journalistinnen und Journalisten ein Gefühl ab: Ernüchterung über KI.

Keiner frischen Liebe tut es gut, wenn man genauer hinschaut. Der erste Schock für KI-interessierte Redakteuren war, dass ein Text von ChatGPT gar nicht so viel Arbeit spart. Weil er auch Unsinn enthalten kann und wir deshalb mindestens ebenso genau hinschauen müssen wie bei einem menschlichen Autor. Sprachmodelle wie GPT-3.5, der Motor von ChatGPT, sind eben keine Wahrheitsmaschinen, sondern Textvorhersage-Maschinen – große statistische Modelle, die aus Unmengen Textbeispielen ableiten können, wie ein Mensch einen Text zu einem Thema schreiben würde. Aber könnten sie nicht bitte trotzdem etwas besser über das nachdenken, was sie schreiben? "Sally hat drei Brüder, jeder hat zwei Schwestern, wieviele Schwestern hat Sally?" – diese einfache Frage können ChatGPT und seine Geschwister derzeit nicht richtig beantworten. Die Sprachmodelle sind auch keine Datenbanken, die einmal antrainiertes Wissen verlässlich und exakt wiedergeben – abgesehen davon, dass ihre Wissensbasis 2022 endet und die Verbindung mit Live-Daten aus dem Internet noch nicht gut funktioniert. Das ist doch Schrott! Und davor hatten wir Angst?

Autor:in

Unser Verhältnis zu bahnbrechenden technischen Neuerungen folgt häufig einer ziemlich typischen Kurve – Schockverliebtheit, wenn wir die neue Technologie entdecken, Euphorie, mit der wir uns gegenseitig anstecken – und dann erste Enttäuschungen, wenn die neue Liebe nicht so ganz unseren Träumen entspricht, die in Ernüchterung und Desillusionierung umschlägt. Die Unternehmensberatung Gartner hat diesen Verlauf als"Hype Cycle" bekannt gemacht, und der ist zwar eher ein einprägsames Bild als ein eisernes Gesetz, aber er beschreibt ganz gut, was wir beispielsweise mit Social Media erlebt haben. Und er sagt uns: nur wer die Ernüchterungs-Phase übersteht, erreicht das "Plateau der Produktivität" – anders gesagt: eine solide, gewinnbringende Beziehung. Am Ende ist auch KI nur Software.

Nutzen im Journalismus

Und doch ist diese Software anders als andere zuvor. Auch wenn ein großes Sprachmodell prinzipiell nichts anderes ist als die Textergänzung in der Chat-App unserer Handys kann es Sinn in Texten erfassen und verarbeiten – und sinnvolle Dinge tun, ohne dass der Mensch jeden einzelnen Schritt vorgeben muss, wie es bei Computern bisher war.

Ein Beispiel aus meiner Arbeit als Datenjournalist. Einen Großteil meiner Arbeitszeit bringe ich damit zu, winzige Unebenheiten in Daten zu begradigen – wenn Sie beispielsweise eine Tabelle mit Landtagswahl-Kandidaten auswerten wollen, lernen Sie Dinge über Computer-Zeichensätze, die Sie echt nie wissen wollten. Sprachmodelle können unsaubere Daten im Handumdrehen in eine makellose Tabelle verwandeln – oder helfen, Computerprogramme zu schreiben, um eine Datenbank anzuzapfen oder Informationen auszuwerten. Sie helfen, große Mengen ungeordneten Text überschaubar und messbar zu machen – tatsächlich war eine meiner ersten Sprachmodell-Anwendungen ein kleines Skript, das Stunden Youtube-Videos und Telegram-Audiobotschaften eines Querdenkers verschriftlichte und knapp zusammenfasste. Als Recherche-Assistenten verstärken ChatGPT, Bard, Aleph Alpha und Claude jedes Team. Sie schlagen Überschriften vor, helfen bei der Verschlagwortung und beim Texte-Kürzen. Und sie erleichtern, die Produkte zu verfassen, die einen Großteil unserer Büro-Arbeitszeit verschlingen: Memos, Protokolle, Konzeptpapiere. 

Das "Plateau der Produktivität", das uns der "Hype Cycle" in Aussicht stellt, liegt direkt vor uns. Und wie man ein vernünftiges ChatGPT-Prompt schreibt  – das gehört einfach bald ebenso zur guten journalistischen Allgemeinbildung wie das Grundwissen um Instagram und Suchmaschinenoptimierung.

Abhängig von den Silicon-Valley-Riesen

Nicht, dass die generative KI die Joblandschaft in den Medien intakt lassen wird. Um mit Adobes KI-Bildgenerator eine Glühbirne über einen Kopf oder einen Tiger in einen Großstadtdschungel zu zaubern, braucht man nur ein paar Sekunden – was man nicht mehr braucht, ist den Fotografen, der das Symbolfoto einer Glühbirne oder eines Tigers liefert. Nachrichtenredakteurinnen und -redakteure fragen sich zu Recht, ob das auch Maschinen könnten: drei Agenturmeldungen zu einer Meldung zusammenfassen – ja, können sie, auch wenn der derzeitige Stand der Technik das zu einem riskanten, weil potenziell blamablen Unterfangen macht. Und überall dort, wo die Neigung der Sprachmodelle zu Bullshit zur Jobbeschreibung passt: im Marketing, in der Werbung - werden sie absehbar viele Copywriter-Jobs überflüssig machen, beziehungsweise: das Arbeitspensum von Autorinnen erhöhen, weil jeder am Markt die neuen Hilfsmittel einsetzt und die Produktivität steigt. Wir haben das schon bei den Übersetzern gesehen, die KI-Dienste wie DeepL inzwischen flächendeckend einsetzen: Die neue Welt bringt zunächst einmal eine weitere Arbeitsverdichtung. 

Die neuen Möglichkeiten zur massenhaften Erstellung von Unfug werden auch denen in die Hände spielen, die von Berufs wegen Unfug verbreiten. Der Strom KI-generierter Propaganda und Desinformation wird den Faktencheckern in den Redaktionen sichere Arbeitsplätze und ein paar interessante neue Herausforderungen bieten – wenigstens das kann man sagen.

Apropos Marketing: Dass die Welt ChatGPT seit dem 30. November 2022 kostenlos nutzen kann, ist eine gigantische Marketingmaßnahme, die sich OpenAI und Quasi-Eigentümer Microsoft jeden Monat mehrere Millionen Dollar kosten lassen. Sie verfolgen ein Ziel damit. Der Zugang wird teurer werden, in jeder Hinsicht. Denn die neuen Tools machen uns wieder ein Stück abhängiger vom Geschäftsgebaren und Datenschutzverständnis der Digital-Megakonzerne. Und Abhilfe in Form eigener Technologie ist nicht in Sicht. Einige wenige Konkurrenten wie Google haben die Ressourcen und die KI-Superrechner, um ähnlich große Konkurrenzmodelle zu GPT zu trainieren – weder europäische Konkurrenten noch die Wissenschaft und schon gar nicht die Medien haben diese Möglichkeit.

Nachrichten von ChatGPTs Tod leicht übertrieben

Und natürlich erhöht das die Gefahr, dass ein Google oder Meta oder Apple auf die lukrativen Reste unserer Geschäftsmodelle schaut und sagt: Netter Laden, den übernehmen ab morgen wir. 

So viel lässt sich sagen: Generative KI wie ChatGPT, Bard oder Aleph Alpha, wie Midjourney oder Firefly, ist längst mehr als ein großartiges Spielzeug für Nerd-Journalisten wie mich. Und: Bei KI-Seminaren frage ich zu Beginn immer, ob die Teilnehmer KI eher als Geschenk oder als Bedrohung empfinden. Gerade jüngere Journalistinnen und Journalisten – die, deren Berufsleben noch viel stärker von generativer KI geprägt sein wird als meins – sind ausgesprochen optimistisch. 

Und der Einbruch bei der ChatGPT-Nutzung? Am Ende des Sommers stellte sich heraus: es waren die Schulferien. Sobald die vorbei waren, sorgte die Nachfrage von Schülerinnen und Schülern dafür, dass die Nutzungszahlen der KI wieder anstiegen.