Der Theologe Wolfgang Reinbold blickt im Gespräch mit epd auf das Erntefest. Die traditionelle Erntedank-Romantik passe nicht immer zur Situation der heutigen Landwirtschaft, sagt der Professor für Neues Testament an der Georg-August-Universität Göttingen.
Frage: Herr Reinbold, heutzutage verbinden die meisten Menschen das Erntedankfest mit der Kirche. Sind die Ursprünge des Fests überhaupt christlich?
Wolfgang Reinbold: Nein, Erntedankfeste gibt es in fast allen Kulturen. Sie gehören zu den Ur-Festen der Menschheit. Warum das so ist, liegt auf der Hand: Wenn wir nichts ernten, können wir nicht leben, ganz gleich, welcher Kultur, welcher Religion wir angehören. Wir sind abhängig davon, dass die Erde Früchte und Getreide hervorbringt oder dass Tiere auf ihr leben, die Junge bekommen. So war es in der gesamten Antike und auch im biblischen Israel.
Wie ist es in der Bibel geschildert?
Reinbold: Die drei großen Feste der Bibel haben allesamt einen Bezug zur Ernte. Das Fest der Ungesäuerten Brote, das man später "Passa" oder auch "Pessach" nannte, war das Fest zur Gerstenernte. Das Wochenfest, das wir heute "Pfingsten" oder jüdisch "Schavuot" nennen, war das Fest zur Weizenernte. Und das Laubhüttenfest, genannt "Sukkot", war das Fest zur Weinlese. Später kamen in der Bibel dann andere Bezüge zu diesen Festen hinzu, insbesondere Bezüge zur Geschichte des Volkes Israel. Diese Bezüge wurden im Laufe der Jahrhunderte wichtiger als der ursprüngliche Sinn.
So kommt es, dass das Erntedankfest nicht zu den christlichen Ur-Festen gehört. Bis heute fällt es im Kirchenjahr aus dem Rahmen. Es ist das einzige Fest im Jahreskreis, das sich auf das natürliche Jahr bezieht und das keinen Bezug zu Christus hat.
Zum Erntedank-Brauchtum gehört es insbesondere in ländlichen Gegenden, den Altarraum üppig mit Feldfrüchten und Gartenblumen zu schmücken. Wie entwickelte sich dieser Brauch?
Reinbold: Dieser Brauch knüpft unmittelbar an die Erntefeste an, wie sie in der Antike allgemein üblich waren. Er entwickelte sich an manchen Orten schon im dritten Jahrhundert. Für das älteste Christentum war das ein durchaus riskantes Experiment. Denn grundsätzlich grenzte man sich ja von den, wie es hieß, "heidnischen" Kulten ab und betonte die Bedeutung des Glaubens an den einen Gott und seinen gekreuzigten und auferstandenen Sohn Jesus, den Christus. Beim Erntedank aber feierte man im Wesentlichen so, wie es die anderen - also auch die "Heiden" - taten.
Deshalb hat Erntedank auch keine Verankerung im Kirchenjahr?
Reinbold: Genau. Deshalb gab es in der Geschichte der Christenheit nie einen klar definierten Termin für das Erntedankfest. Man feierte das Fest vielmehr zu dem Zeitpunkt, an dem es vor Ort jahreszeitlich passte. Bis heute steht es in den Gottesdienstordnungen ganz hinten im Anhang, unter der Überschrift "Besondere Tage und Anlässe". Und erst seit einigen wenigen Jahren hat sich erstmals ein fixer Termin ergeben, nämlich der erste Sonntag im Oktober.
Die Bibel ist reich an Gleichnissen von Saat und Ernte. So etwa die Erzählung von den sieben fetten und den sieben mageren Jahren in der hebräischen Bibel. Warum ist das Thema so präsent?
Reinbold: Weil die biblische Kultur ursprünglich eine Kultur von Bauern und Viehzüchtern war. Nach der Erzählung von Adam und Eva war das schon im Paradies so: Das Erste, was Adam als Auftrag bekommt, ist, dass er den Garten Eden bebauen und bewahren soll, wie es im ersten Buch Mose heißt.
Adam ist ein Bauer, und er gibt diesen Beruf an seine Kinder Kain und Abel weiter, die von Beruf Schäfer und Ackerbauer sind. Und das Erste, was sie tun, ist: Sie bringen Gott ein "Opfer von den Früchten des Feldes" und ein Opfer "von den Erstlingen der Herde". Das heißt: Sie danken Gott für die Ernte. Kain und Abel feierten das erste Erntedankfest der Menschheit, wenn Sie so wollen.
In Zeiten der Klimakrise und einer industriellen Landwirtschaft ändern sich die Vorzeichen des Erntedankfestes. Wirken die romantischen Ackerstillleben vor den Altären da nicht wie ein Widerspruch zur Wirklichkeit?
Reinbold: Die Gefahr besteht in jedem Erntedank-Gottesdienst, in der Tat. Dann ist es wie bei manchen Lebensmittel-Etiketten: Die Produkte sind in Massentierhaltung erzeugt, auf der Packung sieht es aber aus wie bei Heidi auf der Alm. Es scheint mir daher wichtig, die Erntedankfeste so zu feiern, dass sie zur tatsächlichen Situation der Landwirtinnen und Landwirte und der Erzeugung der Lebensmittel passen.
Und vor allem: Sie sind meines Erachtens eine Chance, dass wir uns den Wert unserer Lebensmittel immer wieder neu in Erinnerung rufen. Wir sind es in Deutschland gewohnt, dass auf dem Markt und in den Regalen der Supermärkte immer alles reichlich vorhanden ist. Wie wenig selbstverständlich das ist, spüren wir nur selten, etwa dann, wenn wir von Hochwasser oder Dürre betroffen sind. Das Erntedankfest ist ein Anlass, sich an die Ur-Erfahrung zu erinnern, die in der Bibel so präsent ist: Wir haben die Ernte nicht selbst in der Hand. An Gottes Segen ist alles gelegen.