epd: Driften die evangelische und katholische Kirche bei ethischen Themen auseinander?
Martin Hein: Es gibt weiterhin eine ganze Reihe von Feldern, bei denen es große Überschneidungen oder Deckungsgleichheiten gibt. Es gibt aber an bestimmten, gesellschaftlich brisanten Punkten deutliche Unterschiede. Früher hieß es immer: Wir glauben verschieden, aber wir handeln gemeinsam. Inzwischen ist es so, dass aus unterschiedlichen theologischen Ansichten zum Teil auch unterschiedliche ethische Konsequenzen gezogen werden.
Hat die ethische Haltung der Kirchen zu Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch und Leihmutterschaft in der Öffentlichkeit überhaupt noch eine Relevanz?
Hein: Angesichts der Missbrauchsfälle ist in westeuropäischen Ländern, auch in Deutschland, ein großes Akzeptanzproblem entstanden. Wer sich zurzeit im hohen Ton der Moral äußert, wird relativ schnell auf die eigenen Fehler der Vergangenheit verwiesen.
Die Fallhöhe bei den Kirchen ist hoch - gerade für die katholische Kirche, die sich in moralischen Fragen stets recht weit vorgewagt hat. Auf evangelischer Seite entsteht nach meinem Eindruck eine gewisse Absetzbewegung. Man möchte nicht ständig mit den Problemen der katholischen Kirche vermengt werden.
Insgesamt gesehen glaube ich: Vieles von dem, was gegenwärtig verlautbart wird, wird weder in der Öffentlichkeit noch bei Politikerinnen und Politikern gehört, wie das vielleicht vor etwa 10 oder 20 Jahren noch der Fall war.
Warum ist es wichtig, dass evangelische und katholische Kirche bei ethischen Fragen eine gemeinsame Position suchen?
Hein: Es gab bereits früher ökumenisch angespannte Zeiten, etwa als in der EKD eine "Ökumene der Profile" betont wurde. Gemeint war, dass jede der beiden großen Konfessionen das Ihre in die öffentlichen Diskussionen einbringt. Das wurde von katholischer Seite als unfreundlich aufgefasst.
Ich halte es grundsätzlich für geboten, dass die evangelische Kirche eigene Positionen entwickelt. In einer Öffentlichkeit, die der Kirche insgesamt kritisch gegenübersteht und einen erschreckenden Säkularisierungsschub erlebt, dürfen die Kirchen aber nicht nur das eigene Profil stärken. Sie müssen zugleich danach fragen, wo sich gemeinsame Positionen darstellen lassen. Denn an der Kirche Desinteressierte interessieren die inneren Differenzierungen nicht besonders. In der Öffentlichkeit ist die Unterscheidung zwischen römisch-katholisch und evangelisch sehr eingeebnet, wenngleich es sie natürlich gibt.
"In einer Öffentlichkeit, die der Kirche insgesamt kritisch gegenübersteht und einen erschreckenden Säkularisierungsschub erlebt, dürfen die Kirchen aber nicht nur das eigene Profil stärken"
Bei der Reform des Abtreibungsparagrafen 218 im Strafgesetzbuch und der Frage der Möglichkeit von Eizellenspende und Leihmutterschaft sitzen keine Vertreter der Institution Kirche in der Kommission, die Reformvorschläge unterbreiten soll. Spricht das auch für den Relevanzverlust?
Hein: Ja, das sehe ich so. Die Politik ist da mit dem Vorurteil gestartet, dass sie schon ohnehin wüsste, was die Kirchen dazu zu sagen haben. Ich halte aber etwa die Tendenzen, die bei der Frage der Leihmutterschaft zu erkennen sind, für ethisch zumindest hinterfragbar.
Worin sehen Sie die Ursachen für die momentane Situation der Ökumene?
Hein: Der Faktor Ökumene spielt innerhalb der katholischen Kirche derzeit keine große Rolle. Bei der eucharistischen Gastfreundschaft tut sich gar nichts. Das Arbeitspapier "Gemeinsam am Tisch des Herrn" liegt in Rom in irgendeiner Schublade. Die katholische Kirche ist mit sich selbst beschäftigt. Angesichts der Anforderungen des Reformprozesses Synodaler Weg werden auf besonders strittige ethische Fragen momentan nur bekannte Antworten wiederholt.
Und bei der EKD?
Hein: Die evangelische Kirche steht vor der Tatsache, dass mit den rapiden Austritten ein schmerzhafter Bedeutungsverlust einhergeht. Jetzt ist die Frage: Reagiert man eher mit innerer Abschottung auf diesen Prozess, oder passt man sich an die Säkularisierungstendenzen im Sinne einer größeren Pluralität an? Die evangelische Kirche ist damit beschäftigt, sich in dieser Situation neu zu verorten.
Gegenwärtig wird eine ziemlich große Spannbreite evangelischer Positionen sichtbar. Bei denen, die auf mehr Eindeutigkeit dringen, hinterlässt dies den Eindruck der Beliebigkeit.
Welches sind für Sie die Themenfelder, in denen es nach wie vor Überschneidungen in der ethischen Wertung gibt?
Hein: Das gesamte Thema der Pflege, der Umgang mit Menschen im Alter, auch die Frage der Finanzierung von Krankenhäusern - die Kirchen sind ein ganz starker Faktor in dem Gebiet Pflege, Alter, Krankheit. Das waren sie schon immer.
"...die Kirchen sind ein ganz starker Faktor in dem Gebiet Pflege, Alter, Krankheit. Das waren sie schon immer"
Wie ist es mit dem Bereich Klima?
Hein: Die Klimakrise rückt unbestreitbar in den Fokus. Da gibt es auch kaum Unterschiede zwischen beiden Kirchen. Aber die treibenden Kräfte der Klimabewegungen sind nach meiner Einschätzung nicht mehr - wie noch in den 80er Jahren beim "konziliaren Prozess" - die Kirchen. Inzwischen sind das Greenpeace, "Fridays for Future" und die "Letzte Generation".
Was halten Sie davon, wenn die EKD etwa beim Thema Klimaschutz oder Migration Allianzen schließt mit zivilen Organisationen?
Hein: Wir müssen als Kirchen aufpassen, dass wir nicht zu einer NGO neben vielen anderen und damit verwechselbar werden. Unser allererster Auftrag bleibt, der Welt das Evangelium von Gottes Gnade zu verkündigen. Es geht um eine Gewichtung. Und wo unser Engagement gefordert ist, sind auch Allianzen denkbar.
Was ist Ihre Zukunftsperspektive für die Ökumene?
Hein: Leider ist die Ökumene derzeit eine Hängepartie. Der Vatikan sieht die Reformtendenzen der deutschen Katholiken kritisch. Jetzt muss man schauen, wie die Weltsynode ab Oktober läuft. Die ökumenische Ausrichtung der katholischen Kirche wendet sich meinem Eindruck nach mehr den orthodoxen Kirchen zu. Dort entdeckt man verwandte Schwestern und Brüder, während wir Protestanten die getrennten Schwestern und Brüder sind.
Wird die politische Lobbyarbeit der Kirchen beeinträchtigt, wenn eine gemeinsame Position fehlt?
Hein: Ja, es geht dabei aber nicht allein darum, Gemeinsamkeit darzustellen, sondern man muss auch davon überzeugt sein, dass diese Position diskursfähig und imstande ist, andere zu überzeugen. Das jedenfalls ist meine Erfahrung aus vier Jahren Mitarbeit im Deutschen Ethikrat. Sich nur auf vertraute kirchliche Sprachmuster zu beziehen, reicht nicht aus.
Wir kommen heute in der ethischen Diskussion nur noch zu Gehör, wenn es uns gelingt, unsere aus dem christlichen Glauben gewonnen Überzeugungen so zu formulieren, dass sie Menschen nachvollziehen können, die unsere Voraussetzungen nicht nur nicht teilen, sondern sogar bestreiten. Das ist zwar mühsam, aber aller Mühe wert.