In den Abgrund gespart

Foto: Reuters/Yannis Behrakis
Wie soll ein Land mit Tomaten und Gurken denn Autos und Waffen bezahlen?, fragt unsere Interviewpartnerin. die Griechin ist besorgt über die aussichtslose Situation in ihrem Heimatland.
In den Abgrund gespart
Die Deutschen verstehen die hoffnungslose Situation der Griechen nicht. Das jedenfalls meint unsere Gesprächspartnerin. Sie ist Griechin und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. Ihre Geschwister kämpfen in Griechenland um ihre Existenz. Im Interview mit evangelisch.de kritisiert sie das kaputte Wirtschaftssystem und die Korruption in ihrem Heimatland, zugleich aber auch die Überheblichkeit der Deutschen.

Sie haben darum gebeten, dass Ihr Name nicht genannt wird. Warum ist Ihnen das wichtig?

Anonyme Griechin*: Weil ich meine Eltern nicht beunruhigen will, die nicht von den Problemen wissen, in denen meine Geschwister stecken: Meine Geschwister leben in Griechenland, haben dort ein Haus gebaut, in dem sie auch ein Restaurant betreiben. Das Haus ist in doppelter Hinsicht ihre Existenz, es ist ihr Dach über dem Kopf und ihr Arbeitsplatz. In die Gegend, in der meine Geschwister leben, kommen kaum Touristen, die meisten Gäste sind also Griechen. Daher sind die Einnahmen mit der Krise eingebrochen. Vor acht Jahren, als sie gebaut haben, haben sie eine monatliche Rate von 1800 Euro vereinbart. Das war gut zu schaffen. In der Krise wollten sie die Bank bitten, die Rate auf 1000 Euro zu drücken, bis es besser wird. Aber das macht die Bank nur, wenn die Zinsen auf den Kredit von drei auf sechs Prozent steigen. Es hat sich herausgestellt, dass der Gläubiger das so will – der Kredit ist nämlich an eine britische Bank verkauft worden.

Und nun?

Griechin: Im Juni kam der Brief, dass das Haus im Januar 2013 in die Zwangsversteigerung kommt, der Gerichtstermin ist im November. Meine Geschwister wissen nicht, wie es weitergeht. Den Abteilungsleiter, mit dem sie den Kredit vor acht Jahren vereinbart haben, erreichen sie nicht mehr. Die Banken tauschen die Verhandlungspartner für die Kunden in der Krise häufig aus, damit sich kein Vertrauensverhältnis entwickelt. Ich hoffe, dass meine Geschwister eine kleine Wohnung finden. Sie suchen Arbeit, bewerben sich, aber das ist aussichtslos. Das ist genau der Punkt, der mich so beunruhigt: Die Situation ist für viele Griechen absolut aussichtslos, ohne Hoffnung. Das ist auch das, was die Menschen in Deutschland nicht verstehen.

Wie lange leben Sie in Deutschland?

Griechin: Seit fast 30 Jahren.

Hat sich Ihre Sicht auf Deutschland verändert?

Griechin: Ich beurteile die Deutschen nicht anders als vorher. Aber es ist ungeheuer schwierig für die Menschen hier, sich in eine Situation hineinzuversetzen, in der Menschen ohne Hoffnung leben.

"Manchmal merke ich, wie ich selbst überheblich werde, gegenüber Griechenland."

Wir in Deutschland haben ein sicheres Polster, und das macht überheblich. Die Griechen sind faul, haben Misswirtschaft betrieben, können nicht organisieren, sie sind selbst schuld an dieser Krise – das höre ich häufig zwischen den Zeilen heraus. Aber niemand hier weiß, wie es ist, wenn man den Job verliert, wenn die eigenen Kinder die Arbeit verlieren, wenn Menschen mit Nierenleiden in eine Klinik gehen, aber keine Dialyse mehr bekommen. Wenn ich mit den Deutschen spreche – meistens sind es Gespräche unter Kollegen – kommen viele ins Grübeln. Ich frage dann immer: Wie soll ein Land mit Tomaten und Gurken denn Autos und Waffen bezahlen? Manchmal merke ich, wie ich selbst überheblich werde, gegenüber Griechenland.

Können Sie ein Beispiel eine deutsche Überheblichkeit sagen?

Griechin: Deutsche Politiker sagen oft: „Griechenland muss seine Hausaufgaben machen!“ Was, bitte, ist das für eine Denke? Das ist eine Eltern-Kind-Situation, aber doch kein angemessener Umgang innerhalb von Europa. Das ist entwürdigend! Und was soll das bedeuten, „Hausaufgaben machen“? Es bedeutet: sparen. Doch damit sparen wir die Wirtschaft in Griechenland kaputt. Dass Griechenland Reformen braucht, das weiß ich, das weiß jeder. Aber wo ist der Plan? Wie soll das gehen, wenn man alles in den Abgrund spart?

Wie könnte denn eine Alternative aussehen?

Griechin: Der griechische Staat ist aufgebläht, ja. Aber warum hat man nicht einen Zehn-Jahres-Plan gemacht, um das Land an den Rest der EU anzupassen? Und wie soll es dann aussehen, das Land? Einfach nur zu kürzen, das ist planlos, es nimmt Gestaltungsspielräume. Man braucht Geduld, und man braucht einen Plan. Beides gibt es nicht. Weder in Griechenland noch in Europa.

Wie oft reisen Sie nach Griechenland?

Griechin: Mindestens zwei Mal im Jahr.

Hat sich die Stimmung dort spürbar verändert?

Griechin: Ja, und aktuell ist es so, dass die Menschen Angst vor dem Winter haben. Sie können die Energie nicht bezahlen. Der Liter Heizöl kostet knapp 1,50 Euro, das ist zuviel für die Menschen. Ich habe Freunde, die in einem Sechs-Familienhaus leben, mit Öl-Zentralheizung. Vier der Familien in dem Haus haben sich von der Heizung abkoppeln müssen – zu teuer. Sie schlagen nun Löcher in die Wände und installieren Versorgungsschächte, damit sie mit einem Holzofen heizen können. Aber auch Holz wird immer teurer. Also gehen sie raus und sammeln Holz. Wo sind wir? In Europa? Ich weiß nicht, wo wir sind. Vielleicht in einem Entwicklungsland.

Gibt es Gruppen in Griechenland, auf die Sie wütend sind?

Griechin: Ja, besonders auf die Reichen, die systematisch Steuern hinterzogen und das Geld ins Ausland geschafft haben. Aber ich bin auch auf die kleinen Leute sauer, dass sie das alles mitgemacht haben. Die Strukturen in Griechenland haben korrupt gemacht. Und diese Korruption gab es nicht nur oben, die gab es auch unten.

Das müssen Sie bitte erklären!

Griechin: Griechenland hat kaum Industrie. Aber es hat gut ausbildete Menschen, der Bildungsstandard ist hoch. Viele Eltern wollten nach dem Zweiten Weltkrieg und – später – dem Ende der Militärdiktatur, dass ihre Kinder es besser haben sollten als sie. Nur wo sollten all diese gut ausgebildeten Leute hin, wenn es keine Industrie gibt, die sie beschäftigt? Für viele blieb nur der öffentliche Dienst, nur der Staat. Und jeder war bereit, den zu wählen, der dafür sorgt, dass man beim Staat eine Arbeit fand.

###mehr-artikel### Das meine ich mit Korruption. Dem Land hat die wirtschaftliche Kraft gefehlt, dass die jungen Menschen unabhängig leben konnten. Sie wurden stattdessen Teil dieses Klientelismus, sie haben das System am Laufen gehalten. Das eine, die mangelnde Industrie, ist eine strukturelle Frage. Und diese Struktur hat diese Kultur des Klientelismus bedingt, weil keine andere möglich war. Aber noch mal: Nur durch Kürzungen wird keine neue Kultur entstehen. Sparprogramme, wie die den Griechen auferlegt werden, zielen darauf ab, die Griechen zu diffamieren als ein faules, und schlecht wirtschaftendes Volk, und das kann ich nicht akzeptieren. Ich bedauere es, dass man in Deutschland nicht auf die tieferen Ursachen dieser Krise schaut, die viel länger zurück liegen.

Viele Deutschen trauen sich kaum mehr, in Griechenland Urlaub zu machen – weil sie Angst haben, angefeindet zu werden. Oder weil sie glauben, überheblich zu sein, wenn sie die Griechen mit ihrem Urlaub unterstützen. Was raten Sie?

Griechin: Fahren Sie! Der Tourismus ist eine der wenigen Einnahmequellen, die Griechenland heute noch hat. Und der Konsum der Touristen in Griechenland hilft der Landwirtschaft, die durch die EU-Förderprogramme in eine falsche Richtung gelenkt wurde, sich auf das zu konzentrieren, was sie kann: in kleinen, familiären Strukturen sehr gute Lebensmittel zu machen. Und jeder, der fährt, soll mit den Leuten reden.

"Wir brauchen echte Zeichen der Solidarität"

Wenn Demonstranten beim Besuch der Kanzlerin Hakenkreuzfahnen hoch halten, kommt das in die Bild-Zeitung. Aber diese Wut darf nicht siegen, weil sie auch den Blick auf die Selbstkritik verstellt, was sich in Griechenland ändern muss. Klar gibt es Wut, auch auf Deutschland, auf Angela Merkel, aber glauben Sie mir: Das ist nicht der Tenor in Griechenland. Genauso, wie es in Deutschland nicht der Tenor werden darf, dass die Griechen faul sind. Wir brauchen echte Zeichen der Solidarität, Unterstützung beim Aufbau von Strukturen in der Verwaltung, positive Beispiele der Verbundenheit beider Länder, entstanden auch durch das langjährige Zusammenleben von uns Griechen hier in Deutschland.

*Name der Redaktion bekannt.