Die Digitalisierung hat ein Umweltproblem

Frau schaut durch Kabel
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Im Durchschnitt produzierten die Deutschen 2020 pro Person 850 kg CO2 im digitalen Bereich. Kolumnist Alexander Maßmann schreibt über Digitalisierung mit ihren Vorteilen für die Gesellschaft und Nachteilen für die Umwelt.
Kolumne: evangelisch kontrovers
Die Digitalisierung hat ein Umweltproblem
Die Digitalisierung ist eine Dauerbaustelle der deutschen Politik. Viele Dinge lassen sich online leichter erledigen, aber die Digitalisierung gilt oft auch als besonders nachhaltig. Der Ethik-Kolumnist Alexander Maßmann untersucht diese verbreitete Ansicht kritisch.

Wenn die digitale Zukunft in Deutschland diskutiert wird, geht es um Breitband-Ausbau, Digitalunterricht, die digitale Patientenakte oder die Digitalisierung der Verwaltung. Anscheinend fragen sich Bürgerinnen und Bürger: Kommen wir schnell genug voran auf dem Weg der Digitalisierung? Und tatsächlich bringt die Digitalisierung viele Vorteile.

In der politischen Debatte wiederum warf ein Kommentator mit Spezialgebiet Digitalisierung, Sascha Lobo, Angela Merkel vor, die politische Bilanz ihrer Kanzlerschaft sei auf drei Gebieten enttäuschend, die gerade für die jüngeren Generationen wesentlich sind: Klimaschutz, Digitalisierung und soziale Gerechtigkeit. Ob er mit dem spezifischen Vorwurf Recht hat, ist für mich gerade nicht wichtig. Bemerkenswert finde ich aber, wie selbstverständlich hier Wertungen vorgenommen werden. Natürlich wollen junge Leute die drei Dinge: Klimaschutz, Gerechtigkeit und Digitalisierung, und natürlich wollen sie alles zusammen. Auch eine aktuelle Umfrage der Bertelsmann-Stiftung samt Analyse ergab, dass die Digitalisierung – teils nach Ansicht von Bürger:innen, teils von bestimmten Kommentatoren – eine, vielleicht sogar die entscheidende Voraussetzung zum Klimaschutz liefert.

Doch die Digitalisierung hat ein massives Umweltproblem. Auch die Gerechtigkeitsfrage sollte man stellen. In dieser Kolumne geht es mir aber darum, dass wir die großen Umweltkosten der Digitalisierung viel zu leicht ausblenden.

Wie wir die Digitalisierung imaginieren

Sucht man nach Symbolbildern, die die "Digitalisierung" illustrieren sollen, findet man leuchtende Girlanden von Binärcode, die schwerelos durch die Luft fliegen. Feingesponnene Netzwerke mit leuchtenden Knotenpunkten schweben körperlos im dunkelblauen Nichts und werden hin und wieder vom Zeigefinger einer männlich-markanten Hand angetippt. Anscheinend klopfen wir hier an im unterkühlten Reich des reinen Geistes. Was ist hier los – sollte unsere Imagination einer so einflussreichen Technologie so unterbelichtet sein? Anders sieht eine biblische Sicht des Menschen aus: Nicht der Mensch wird vergeistigt, sondern das Wort wird Fleisch. Zeit für einen konkreteren, weniger idealisierten Blick auf die Digitalisierung.

Der Energieverbrauch der Digitalisierung

Tatsächlich bietet die digitale Technik viele Verbesserungen unseres Lebens: An vielen Veranstaltungen kann man z.B. online teilnehmen und muss sich nicht ins Verkehrsgetümmel stürzen. In der künstlichen Intelligenz lautet die Frage teilweise ebenso, ob wir sie in Deutschland eigentlich entschieden genug fördern. Natürlich gibt es auch Stimmen, die kritischer sind: Unterschätzen wir den Schaden, den diese Technik womöglich anrichtet, z.B. mit Deep-Fake-Videos? 

Doch während die Künstliche Intelligenz in der Erfahrung der User noch relativ neu ist, hat das Problem der Umweltzerstörung durch die Digitalisierung schon durchgeschlagen. Das stellt zum Beispiel die Forscherin Kate Crawford eindrücklich in ihrem Buch "Atlas of AI" dar. Allein der direkte Energieverbrauch der digitalen Industrie übertrifft den des Flugsektors insgesamt und wächst schneller. Obwohl die Datenübertragung effizienter wird, wird der Energiebedarf der Rechenzentren allein bis 2030 etwa um das Fünfzehnfache zunehmen. 

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Wie verhält sich die Digitalisierung zum Umweltschutz?

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Immerhin geben Apple und Google an, sie hätten sich vollständig den erneuerbaren Energien verschrieben, und ab 2030 möchte Microsoft der Atmosphäre mehr CO2 entziehen als es freisetzt. Das geschieht allerdings oft auch durch Kohlenstoff-Kompensationszahlungen, die in der Realität schlechter funktionieren dürften als auf dem Papier. Viele Rechenzentren setzen dagegen noch nicht einmal offiziell auf die Erneuerbaren. Laut der "Green Web Foundation" greifen beispielsweise die Telekonferenz-Plattform Zoom und der Cloudanbieter Dropbox auf fossile Brennstoffe zurück. Mit Clouddiensten sorgen wir ohnehin für unnötige Treibhausgase, denn wir halten große Mengen an Dateien einsatzbereit, ohne sie zu benutzen. Hinzu kommt, dass die Endverbraucher in Deutschland zum Beispiel beim Streaming Kohlestrom verwenden. Ganz zu schweigen von der Daten-Industrie in China, die vor fünf Jahren noch zu 73 Prozent auf Kohlestrom setzte.

Der außerordentlich hohe Energieverbrauch von Kryptowährungen wie Bitcoin ist inzwischen in den Medien weniger präsent. In aller Munde dagegen ist die künstliche Intelligenz. Bis eine solche Software ungefähr das vollbringen kann, was wir uns erhoffen, muss sie mit umfangreichen Datensätzen trainiert werden. Das Training selbst ist aber nicht besonders intelligent, sondern folgt der Brute-Force-Methode. Je größer die Datensätze, desto leistungsfähiger wird die KI, und desto stärker steigt der Energieverbrauch. Wenn eine einzelne KI-Anwendung auf den Markt kommt, ist sie bereits für so viele CO2-Emissionen verantwortlich wie fünf Verbrennerautos während ihrer gesamten Lebensdauer, einschließlich ihrer Produktion. 

Im Durchschnitt produzierten die Deutschen 2020 pro Person 850 kg CO2 im digitalen Bereich. Die Herstellung und der Betrieb von Fernsehern machten gut 40 Prozent dieser Menge aus. Der Betrieb von Rechenzentren verursachte ein Viertel des deutschen CO2-Ausstoßes im Digitalbereich. Die nächstgrößeren Quellen der Emissionen waren mit je 7 Prozent das Videostreaming und die Herstellung von Laptops. 

Umweltvorteile der Digitalisierung

Doch macht die Digitalisierung nicht auch vieles umweltfreundlicher? Die "Zeit" hat neulich vorgerechnet, dass man über drei Tonnen CO2 einspart, wenn man zwecks Tagung oder Besprechung die digitale Telekonferenz wählt statt eines Transatlantikflugs. Auch der Einsatz des Handys als Navigationsgerät spart Umwege und Abgase. Doch zugleich warnt der ADAC, dass man das Unfallrisiko unterschätzt, das die Ablenkung durch das Navi mit sich bringt. Außerdem gibt es dank der Digitalisierung Rechnungen und Kontoauszüge papierfrei und wohl bald auch Arztrezepte. Vor ein paar Jahren schätzte allerdings eine Initiative, dass in Unternehmen noch etwa 50 Prozent der Emails ausgedruckt werden – und nicht bloß die relevante erste Seite, sondern der komplette Thread.

Das Hardware-Problem

Schon angeklungen ist, dass die Herstellung von Servern, Smartphones, Tablets, Laptops, Fernsehern und dem Zubehör Treibhausgase verursacht. Der Flachbildschirm-Markt wird kontinuierlich durch technische Neuerungen wie Ultra High Definition angetrieben. Die durchschnittliche Lebensdauer eines Smartphones wird auf 4,7 Jahre geschätzt, und die Recycling-Quote ist gering. 2019 produzierte die IT-Sparte weltweit etwa 54 Millionen Tonnen E-Schrott. Mit der zunehmenden Bedeutung der Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft wird der Bedarf an neuen Geräten aber noch wachsen.

In den kommenden Jahren dürften außerdem viele ihre Smartphones frühzeitig ausrangieren, um die neue 5G-Technologie zu nutzen – den WLAN-Standard der "fünften Generation". Dazu werden außerdem zahlreiche zusätzliche Mobilfunkmasten benötigt. Ein Vorteil von 5G besteht in der erhöhten Energieeffizienz bei der Datenübertragung. Es ist aber zu befürchten, dass es mit 5G auch beim individuellen Energieverbrauch zu einem Rebound-Effekt kommt: Weil die Lücken im Netz geschlossen werden und wir mobil in höherer Qualität streamen können, werden wir die verbesserte Energieeffizienz vermutlich durch intensivere Nutzung wieder wettmachen, und der absolute Energieverbrauch dürfte kaum abnehmen.

Für die Herstellung der digitalen Geräte werden außerdem Lithium und seltene Erden verwendet. Zu ihrer Gewinnung werden weltweit ganze Landstriche zerstört. Dieser Raubbau bedeutet neben der Umweltzerstörung auch Sklaverei, Hungersnot, Krankheit, Vertreibung und andere Formen der Gewalt bis hin zu Kriegen. Würde man den internationalen Schutz der Umwelt und der Menschenrechte konsequent umsetzen, zum Beispiel mit einem robusten Lieferkettengesetz, wäre die Digitalisierung auf Eis gelegt.

Kühlung und Transport

Außerdem werden Rechenzentren oft mit Wasser gekühlt. Im Falle eines immensen Rechenzentrums des amerikanischen Geheimdienstes NSA könnte es sich um täglich über 6 Millionen Liter handeln. Schließlich kommt zur Umweltbilanz der Digitalisierung noch der internationale Transport hinzu. Mineralien, Energieträger, die Hardware der Rechenzentren und die digitalen Geräte für die Endverbraucher werden ganz "old school" über enorme Distanzen transportiert, mit den alten umweltschädlichen Containerschiffen.

Ausblick: Digitalisierung abstrakt oder konkret?

In unserer Fortschrittserzählung der Digitalisierung betrachten wir die IT-Geräte teils naiv als neutrale Instrumente. Im Theoriebereich ist außerdem der Philosoph Marshall McLuhan einflussreich, der vor 60 Jahren Medien als Erweiterungen unserer Wahrnehmung dargestellt hat und damit unserer selbst ("Understanding Media: The Extensions of Man"). Inzwischen können wir also auf Foren mit Menschen aus anderen Weltgegenden chatten oder im Nu eine beliebige Anzahl von Filmen abrufen. Wir haben schnellen Zugriff auf eine Fülle von Informationen. Damit hat die Digitalisierung unsere eigenen Fähigkeiten erweitert. Wie genau aber der Binärcode zum Filmerlebnis wird, überfordert unser Verständnis. Also illustrieren wir die Digitalisierung mit unterkühlt-körperlosen Symbolbildern. Darunter auch die geniale Metapher der Cloud, die Leichtigkeit und Subtilität suggeriert. Abgesehen vom Zuwachs an eigenen Fähigkeiten bleibt die Digitalisierung aber für uns abstrakt.

Weil wir die Digitalisierung als eine Erweiterung unseres Könnens wahrnehmen, hält der Common Sense die Digitalisierung recht pauschal für einen Fortschritt. Wenn sich eine politische Partei für den Breitbandausbau im ländlichen Raum ausspricht, betrachten wir das als ein Fortschrittsangebot. Und tatsächlich erhöht die Digitalisierung unseren Komfort. Doch konkretere, schwerwiegende Folgen der Digitalisierung erleben wir nicht unmittelbar. Wir machen uns kaum klar, wie die Digitalisierung ganz real zur Klimakrise beiträgt, in fernen Ländern ganze Landschaften vermüllt oder zerstört und großes menschliches Leid anrichtet. Diese Folgen können wir nicht als Erweiterung unserer selbst erleben, und so blenden wir sie aus. Damit wird unser Verhältnis zur Wirklichkeit aber abstrakt und oberflächlich.

Ein robuster Schutz von Klima, Landschaften und Menschen würde eine Vollbremsung der Digitalisierung bedeuten. Doch zugleich meinen viele Menschen pauschal, dass die Digitalisierung dem Umweltschutz zugute kommt und dass sie allgemein etwas ist, was eine Regierung selbstverständlich vorantreiben soll. Es geht mir hier nicht darum, die Digitalisierung insgesamt zu verurteilen. Umkehren lässt sie sich ohnehin nicht. Sie prägt unser Denken und Verhalten und bringt tatsächlich viele Fortschritte. Für den Breitbandausbau im ländlichen Raum bin auch ich. Ob 5G eine sinnvolle Sache ist, ist aber eine andere Frage! Denn insgesamt ist unser Bild von der Digitalisierung sehr unvollständig: Wichtige problematische Seiten kommen darin nicht vor. Wenn demnächst ein Internet-Konzern die Digitalisierung reflexartig als Fortschritt darstellt, sollten wir uns an ihre enormen Kosten erinnern. Unser abstraktes Verhältnis zu dieser Wirklichkeit können wir uns nicht mehr lange leisten.