Der Rundblättrige Sonnentau hat viele Namen, und nicht alle klingen so romantisch wie "Himmelstau" oder so kurios wie "Herrgottslöffel"; er wird auch "Brunstkraut" und "Widdertod" genannt. Entscheidend für seinen Bezug zu der klug und immer wieder überraschend konzipierten siebten Episode der Saarland-Krimireihe "In Wahrheit" sind jedoch zwei andere Merkmale: Sonnentaugewächse sind fleischfressende Pflanzen; ein erster Hinweis auf den Unhold dieser Geschichte, der die Herzen seiner Opfer verschlingt, wenn auch nur im übertragenen Sinn. Ganz profan hat das Gewächs zunächst jedoch entscheidenden Anteil daran, dass der Mordfall, um den es in "Blind vor Liebe" geht, bereits nach wenigen Filmminuten aufgeklärt zu sein scheint.
Als ein Hund im Wald bei der Saarschleife die Leiche von Reinigungskraft Camille Bartell entdeckt, werden Judith Mohn (Christina Hecke) und ihr Kollege Breyer (Robin Sondermann) beim Witwer vorstellig: Zunächst, um ihm die Nachricht vom Tod seiner Frau zu überbringen, kurz drauf, um ihn festzunehmen, denn der Rundblättrige Sonnentau ist eine geschützte Pflanze, deren Lebensraum zunehmend schwindet, weshalb in der Bundesartenschutzverordnung exakt vermerkt ist, wo sie überall wächst; unter anderem in besagtem Waldstück.
Eric Bartell (Nico Rogner) leugnet zwar, je dort gewesen zu sein, aber die Pflanzenspuren unter seinen Wanderschuhen belegen das Gegenteil. Eine frühere Freundin beschreibt ihn zudem als krankhaft eifersüchtig, und prompt verweist Mohn auf jene Statistik, die derzeit regelmäßig in Krimis zitiert wird: An jedem dritten Tag stirbt in Deutschland eine Frau durch die Hand ihres aktuellen oder ehemaligen Partners.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Doch dann taucht unerwartet Mohns Mutter (Steffi Kühnert) im Kommissariat auf. Die beiden Frauen haben sich seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, ihr Verhältnis ist, gelinde gesagt, nicht das Beste. Für den Fall, der ja ohnehin geklärt zu sein scheint, wäre der Besuch völlig unerheblich, aber die junge Kollegin Lisa (Jeanne Gersaud) erkennt sie wieder: Es gibt ein Foto, das Karen Mohn mit einigen anderen Frauen zeigt, darunter auch Camille Bartell; und jetzt entwickelt sich der Film in eine völlig unerwartete Richtung.
Zum Vorspann erklingt der Song "It Takes A Lot To Know A Man" von Damien Rice, der mit seiner musikalischen Melancholie die Stimmung dieses von Gunnar Fuss (Regie und Kamera) mit gedeckten Farben gestalteten Dramas vorgibt. Mohn und Breyer kommen der Wahrheit auf die Spur, als sie rausfinden, dass Camille größtenteils bei alleinstehenden und nicht mehr ganz jungen Frauen geputzt hat.
Eine von ihnen ist die Bistrobesitzerin Anne Eisenbarth (Karoline Eichhorn), die im weiteren Verlauf der Handlung beinahe buchstäblich am Boden zerstört ist, als sie vor der Filiale ihrer Bank zusammenbricht, nachdem sie erfahren hat, dass sie vor dem Ruin steht. Den anderen geht es ähnlich. Aus der Reihe, und das in der Tat im Wortsinn, tanzt allein Karen Mohn: Breyer beobachtet, wie die Mutter seiner Kollegin wie ein verliebter Teenager durch die Fußgängerzone schwebt.
Steffi Kühnert spielt das auf beiden Ebenen sehr anrührend: mal aus dem Häuschen, mal empört, als sie zu der Überzeugung gelangt, ihre Tochter gönne ihr das späte Glück nicht. Judith wiederum findet schließlich heraus, was Camilles Arbeitgeberinnen miteinander verbindet, und entschließt sich schweren Herzens, die eigene Mutter ohne deren Wissen als Lockvogel einzusetzen.
In dieser Verschmelzung von Beruf und Privatleben liegt der eigentliche Reiz des von Fuss sehr zurückhaltend inszenierten Films; einzige Ausnahme ist eine kurze Verfolgungsjagd, die dank der entsprechenden Musik (Christoph Zirngibl) für ein paar dynamische Momente sorgt.
Dass Fuss auch anders kann, hat er unter anderem mit dem erlesen fotografierten Thriller "Todesengel" (2022) für die ZDF-Reihe "Solo für Weiss" bewiesen. Fesselnd ist auch das Finale hoch droben auf einer Aussichtsplattform mit spektakulärem Blick über die Saarschleife. Ansonsten lebt "Blind vor Liebe" vom klugen Drehbuch (Katja Töner), das mit jeder Antwort eine neue Frage aufwirft und die wichtigste bis zum Schluss offen lässt: Wer hat Camille erschlagen?
Berührend sind zudem die Leistungen der Gastdarstellerinnen. Sehr sympathisch ist auch die Idee, Steffi Kühnert nach ihrem Gastauftritt vor einigen Jahren ("Still ruht der See", 2018) erneut mitwirken zu lassen. Jeanne Goursaud verabschiedet sich dagegen von der Reihe. Das ist zwar bedauerlich, aber viel zu tun hatte sie ohnehin nie.