Wie leben Obdachlose und warum sind sie es?

Obdachlose Person schläft auf einer Matratze auf der Straße
© Panama7/iStockphoto/Getty Images
"Obdachlosigkeit" - hier ein Archivfoto (2019) aus Berlin - ist das zentrale Thema dieser Buchtipps des Evangelischen Literaturportals Eliport.
Buchtipps: Blick in die Literatur
Wie leben Obdachlose und warum sind sie es?
Die Zahl der Obdachlosen – also jener Menschen, die auf der Straße oder in provisorischen Behausungen leben – wurde 2022 auf 37.400 geschätzt. Wer sind diese Menschen, wie leben sie und warum wurden sie obdachlos? Das Evangelische Literaturportal stellt Bücher und ein Hörbuch vor, die sich diesen Fragen literarisch nähern.

Sarah V. und Claude K. Dubois: Stromer

Ein Kind begegnet einem Obdachlosen

Das Bilderbuch erzählt zwei Geschichten, die schließlich zusammengeführt werden. Die eine Geschichte handelt von einem Kind, das morgens behütet aufsteht und mit seiner Mutter zur Schule geht. Die andere Geschichte berichtet von Stromer, einem Mann ohne festen Wohnsitz, der auch aufstehen muss. Aber sein Start in den Tag ist ganz anders als der des Kindes.

Von dem Kontrast Ordnung - Unordnung, Schutz - Sorge lebt das Buch. Stromers Geschichte ist ausführlicher, weil das Buch auf Empathie mit Stromer angelegt ist. Das Kind entdeckt Stromer und durchbricht seine Mischung aus Scham, Einsamkeit und Ausgrenzung mit der kindlichen Frage: Magst du einen Keks? Es wird der beste Keks für Stromer. Nähe ist ein Lebenselixier. Die Farben der Bilder sind zart, hell. Die Linien sind fließend ohne starke Kontraste. Der Inhalt bietet genug Kontrast.

In Familien, Kindertagesstätten und Grundschulen kann das Buch eingesetzt werden. Oder in einer Andacht zum Thema Obdachlosigkeit.    Martin Schulz 

Sarah V., Illustrationen von Claude K. Dubois: Stromer. Dt. von Tobias Scheffel. Frankfurt: Moritz 2017. Aus d. Franz. ISBN 978-3-89565-342-1, geb.: 12,95 €

 

Kirsten Boie: Ein mittelschönes Leben - Ein Kinderbuch über Obdachlosigkeit

Die Geschichte eines Mannes, der aus einem ganz normalen Leben heraus in die Obdachlosigkeit geraten ist.

Eine Familie, Arbeit, mit der man Geld verdienen kann, ein Zuhause - eigentlich ist das selbstverständlich. Der Mann, von dem hier erzählt wird, hatte das alles auch. Aber als seine Frau sich von ihm scheiden ließ und er kurz darauf seine Arbeit verlor, fingen die Schwierigkeiten an: Vereinsamung in einer fremden Stadt, erneuter Verlust des Arbeitsplatzes, Schulden, Alkohol. Anders als manche Themenbücher ähnlicher Art kommt Kirsten Boie ohne pädagogischen Zeigefinger aus. Sie erzählt in einem einfühlsamen Sprachduktus, unsentimental, ohne falsches Mitleid.

So entsteht Verständnis für das Schicksal von obdachlosen Menschen und das macht eine menschenwürdige Begegnung möglich. Jutta Bauers Illustrationen zeigen deutlich die Emotionen des Mannes und bewegen genauso wie der Text. Im Anhang befragen Grundschulkinder Obdachlose über ihr Leben. Die Antworten werden durch Sachinformationen ergänzt.    

Ein ganz wichtiges Buch für alle Kinder im Grundschulalter und ihre Eltern, für Religions- und Projektunterricht. Auf der Website des Straßenmagazins Hinz & Kunzt gibt es rund um das Buch noch einiges zu entdecken: www.einmittelschoenesleben.de        Heidrun Martini 

Boie, Kirsten: Ein mittelschönes Leben. Ein Kinderbuch über Obdachlosigkeit. Illustrationen von Jutta Bauer. 1. Aufl. Hamburg: Hinz & Kunzt 2008. 27 Seiten. ISBN 978-3-00-026146-6, kt.: 4,80 €

 

Onjali Q. Raúf: Die Nachtbushelden

Erzählung von einem, der kein Mobber mehr sein will.

Hector ist zehn Jahre alt und hat vor nichts und niemandem Respekt. Er drangsaliert andere und zieht sie ab, klaut und lügt. Immerhin merkt er selbst, dass er zu weit gegangen ist, als er den Besitz eines Obdachlosen in einem See versenkt.

Nach diesem Vorfall verändert sich sein Blick auf Menschen, die auf der Straße leben und auf diejenigen, die ihnen helfen, so wie seine zunächst verhasste Klassenkameradin Mei-Li, die in einer Suppenküche hilft.

Am Ende hilft er spektakulär mit, ein Komplott zu entlarven, bei dem Obdachlose als Diebe kompromittiert und aus der Londoner Innenstadt vertrieben werden sollen.

Auch Onjali Q. Raúfs zweites Buch mit den Themen Mobbing und Obdachlosigkeit ist rasant, bewegend und brillant geschrieben. Geeignete Sachinformationen zu diesen Themen finden sich im Anhang des Buches. Einzige Kritik: der etwas zu "bilderbuchhafte" und pädagogisierende Wandel Hectors vom Ekel zum Helden.

Spannende, tiefgehende und sachbezogene Lektüre, die ich gerne empfehle. 
Anne Rank 

Raúf, Onjali Q.: Die Nachtbushelden. Dt. von Katharina Diestelmeier. Illustrationen von Pippa Curnick. Zürich: Atrium 2021. 316 Seiten. Aus d. Engl. ISBN 978-3-85535-656-0, geb.: 15,00 €

 

C. G. Drews: The Boy Who Steals Houses - The Girl Who Steals His Heart

Herausfordernder Text eines Jungen gegen Unverständnis und für ein Zuhause, mitreißend in Dunkelheit oder Hoffnung.

Eigentlich will Sam doch nur ein Zuhause für sich und seinen großen Bruder Avery, denn Avery braucht Schutz. Das bringt Sam aber immer in Schwierigkeiten und entfernt ihn auch von Avery. Braucht nicht er Hilfe, weil er immer mehr wie sein Vater wird?

Trotz seiner Willensstärke erscheint die Situation oft aussichtslos. Bis er unverhofft auf Moxie trifft, ein glücklicher Tag umgeben von Familienchaos und Albernheiten verändert sein Leben.

Es lässt ihn nicht los, ein normales Leben scheint für Sam sehr nah. Doch nicht basierend auf Lügen, bald muss er sich der Vergangenheit stellen. Authentisch werden Sams Charakter und seine schwere Situation beschrieben, dadurch sieht der Leser sich zerrissen zwischen Mitgefühl und Abscheu vor seinen Handlungen. Durch die Zufallsbegegnung mit Moxie und Familie wird die düstere, trostlose Stimmung geschickt von einer hoffnungsvollen Spannung durchbrochen.

Das Buch hat mich zwischenzeitlich sehr aufgewühlt, ich konnte es aber nicht weglegen.   Tamara Emmerichs 

Drews, C. G.: The Boy Who Steals Houses. The Girl Who Steals His Heart. Dt. von Britta Keil. Frankfurt am Main: Fischer Sauerländer 2022. 365 Seiten ; Aus d. Engl. ISBN 978-3-7373-5943-6, geb.: 17,00 €

 

Markus Ostermair: Der Sandler

"Das darf man eigentlich niemanden erzählen, denkt Karl". - Dies ist der erste Satz des inneren Monologs des ehemaligen Mathelehrers Karl Maurer.

Mit diesem Satz werden die Leser:innen von Markus Ostermair in die Schamgebiete der Obdachlosigkeit eingeführt. Dem Protagonisten Karl war ein Kind vor das Auto gelaufen und starb. Gerichtlich wird er von Schuld freigesprochen, aber den immer wiederkehrenden Film des Unfalls wird er nicht los. Er versucht ihn wegzutrinken und verliert Arbeit, Frau, Kind und Wohnung.

Hier setzt die Romanhandlung ein, die konsequent aus der Figurenperspektive mit den Mitteln des inneren Monologs und der erlebten Rede erzählt wird, ohne belehrende oder gar moralisierende Erzählkommentare des Autors. In einem der Anfangskapitel - "Der Eintopf" lernen wir bereits den größten Teil des Handlungspersonals (Jürgen, Albert, Mechthild) und die Kulisse von "Pi mal Daumen zweiundvierzig ungewaschenen Männern und einem Dutzend Frauen", die – sich eingeschlossen – Karl als "Scheiterhaufen" bezeichnet. Allein dieses 25seitige doppeldeutige "Eintopfkapitel" wäre eine Inszenierung wert! 

Markus Ostermair ist ein packender Großstadtroman gelungen, der die Leser:innen durch die armen Teile Münchens führt, der inhaltlich überzeugend die Vielfalt der Obdachlosigkeiten aufblättert und damit in bester Tradition des Obdachlosenromans "Die Sonne der Sterbenden" (1999) von Jean-Claude Izzo steht.   Reinhold Zenke

Ostermair, Markus: Der Sandler. Roman. Hamburg: Osburg 2020. 370 Seiten ; ISBN 978-3-95510-229-6, gebunden: 20,00 €

 

Stefan Weiller: Deutsche Winterreise - Liederzyklus mit Gedichten von Menschen im Abseits

Schicksale sozial ausgegrenzter Menschen, verwoben mit den Liedtexten und der Musik von Franz Schuberts "Winterreise".

Zehn Jahre lang ist der Autor Stefan Weiller durch deutsche Städte gereist, um Gespräche mit Menschen zu führen, für die sich sonst kaum jemand interessiert: Wohnungslose, Geflüchtete, ins Abseits Geratene. Ihre Lebensgeschichten, Gedanken und Gefühle hat er in kurzen, prägnanten Texten zusammengefasst und hat sie auf geradezu geniale Weise mit den Gedichten von Wilhelm Müller (1794-1827) und der Klaviervertonung von Franz Schubert (1798-1828) verbunden.

Durch diese außergewöhnliche Kombination verleiht Stefan Weiller der "Winterreise" des 19. Jahrhunderts eine unerwartete Aktualität und den Texten über die vielfältigen, ergreifenden Schicksale seiner Gesprächspartner eine besondere Tiefe und Würde.

Namhafte Schauspieler wie Eva Mattes, Birgitta Assheuer und Jens Harzer verstärken die Eindringlichkeit der emotionalen, aber niemals sentimentalen Texte und plädieren für Verständnis und Bewunderung gegenüber Menschen, die nicht in "geordneten Verhältnissen" leben.
Ein äußerst beeindruckendes Hörbuch mit einer sehr wichtigen Botschaft.
Elisabeth Schmitz 

Deutsche Winterreise. Liederzyklus mit Gedichten von Menschen im Abseits. Autorisierte Audiofassung. Franz Schubert, Wilhelm Müller u. Stefan Weiller. Gesprochen von Eva Mattes, Wolfram Koch u.a. Klavier: Hedayet Djeddikar. Berlin: speak low 2019. 1 CD ; 82 min. + 1 Booklet. ISBN 978-3-940018-56-4, : 16,00 €

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